Jeder in Polen weiß, dass die polnische Politik vor allem eine Fehde zweier alter Männer ist: Jarosław Kaczyński, Präses der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), und Donald Tusk, Vorsitzender der Partei Bürgerplattform (PO). Die beiden bekämpfen sich seit mehr als 20 Jahren gegenseitig – Erstwähler kennen gar nichts anderes. Oft wirkt es wie ein Kampf der Systeme. Auf der einen Seite die Zerstörer des Rechtsstaats und Brüssel-Feinde von der rechtsnationalistischen PiS, auf der anderen Seite die wirtschaftsliberalen Demokraten Tusks.
Am Montagabend war diese Fehde wieder gut zu beobachten. PiS-Kandidat Karol Nawrocki hatte bei einem Vorsprung von etwa 370 000 Stimmen mit nicht einmal 51 Prozent die Präsidentschaftswahl gewonnen. Für Kaczyński reichte das aus, um der ebenso demokratisch gewählten Tusk-Regierung die Legitimation abzusprechen. Diese müsse nun durch eine „technische Regierung“ ersetzt werden, Tusk müsse zurücktreten, er habe versagt.

Neuer polnischer Präsident
:„An der Schwelle zu einer neuen Zeit“
Neuer polnischer Präsident
Orientierungslose Demokraten, verschreckte Großstädter und triumphierende Nationalisten: Was Polen nach der Wahl erwartet, und wie es zu dem Ergebnis kam, das wieder einen Kandidaten der PiS zum Staatsoberhaupt macht.
Tusk wendete sich kurz darauf an die Öffentlichkeit: Er werde im Sejm – dem Unterhaus des polnischen Parlaments – die Vertrauensfrage stellen. Die Abstimmung wurde für 11. Juni festgesetzt. Es gehe darum, sagte Tusk, im In- und Ausland zu zeigen, dass die Koalition zusammenstehe und „keinen Schritt zurückweichen“ werde. Für den Fall einer schwierigen Zusammenarbeit sei ein „Notfallplan“ vorbereitet, den Tusk nicht näher erläuterte.
Die Justizreform lässt sich nicht zurückdrehen mit dem neuen Präsidenten
Für Tusks Regierung geht es mit einem Präsidenten Nawrocki mindestens so schwierig weiter, wie es mit Präsident Andrzej Duda war. Die vom EuGH verurteilte Justizreform der PiS-Regierung kann Tusk mit Nawrocki nicht zurückdrehen. Das polnische Staatsoberhaupt kann Gesetze ablehnen – und damit eine Regierung auch blockieren. Es kann selbst Gesetzesvorschläge machen, zudem muss der Präsident dem Haushalt zustimmen.
Doch nun muss Tusk vor allem seine Regierungskoalition einen, und das ist eine fast unlösbare Aufgabe. Das liegt an der Vielzahl der beteiligten Parteien. Gemeinsam mit Tusks Bürgerplattform (PO) traten als Bürgerkoalition (KO) auf einer Liste vier kleinere Parteien an, darunter die Grünen. Somit ist allein schon die Bürgerkoalition inhaltlich sehr vielstimmig, von zentristisch bis progressiv.

Hinzu kommt das Wahlbündnis Dritter Weg, das aus zwei Parteien besteht und eher christlich bis extrem konservativ eingestellt ist. Und schließlich die Neue Linke, die wiederum aus Splittergruppen besteht.
Eine wahrlich unübersichtliche Koalition mit einer Vielzahl innerer Konflikte also. Dennoch deutet nichts darauf hin, dass Tusk die Vertrauensfrage verlieren könnte. In aktuellen Wahlumfragen liegt Tusks Bürgerkoalition knapp vor PiS – und trotzdem verlöre die Regierung ihre Mehrheit, weil die Koalitionsparteien kaum noch Stimmen erhielten.
PiS hat den nächsten Wahlkampf schon begonnen
Neuwahlen will die Regierung also eher vermeiden. Dennoch werden die anderen Parteien an Tusk für ihr Vertrauen auch Forderungen stellen. Die Linke will eine noch stärkere Anhebung des Mindestlohns, der im Januar auf etwa 1093 Euro monatlich stieg, und Maßnahmen gegen die Altersarmut. Auch das Zwei-Klassen-Gesundheitssystem ist ein heißes politisches Eisen.
Zusammengehalten wurden die Parteien im Parlamentswahlkampf im Wesentlichen vom gemeinsamen Wunsch, PiS abzulösen. Auch in den letzten Tagen des Präsidentschaftswahlkampfs versammelten sich alle Koalitionäre einträchtig hinter Kandidat Rafał Trzaskowski.
Nach fast zwei Jahren Dauerwahlkampf mit Parlaments-, Kommunal-, Europa- und nun Präsidentschaftswahlen könnte eigentlich endlich etwas Ruhe einziehen. Die nächsten Wahlen zu Sejm und Senat sollen erst im Herbst 2027 stattfinden. Doch PiS hat den nächsten Wahlkampf schon begonnen und schmiedet Pläne, wie sie Tusk und seine Regierung möglichst schnell loswerden kann.
Dabei stellen sich längst immer dringender auch Personalfragen. Tusk ist mit 68 Jahren der jüngere der beiden Dauerkontrahenten, Kaczyński ist 75. Wer soll ihnen folgen? Bei beiden steht die Zukunft der Partei auf dem Spiel. In Tusks Partei gab es immer wieder Absetzbewegungen. So gingen vor Jahren etliche Mitglieder zur neu gegründeten Bewegung Polska 2050, die heute Teil der Regierungskoalition ist.
Die PiS-Partei erscheint zwar geeinter, dennoch gibt es verschiedene Lager, und viele erwarten, dass die Partei in internen Kämpfen zerfällt, sollte Kaczyński einmal zurücktreten.
Es wäre die Befreiung vom sogenannten Duopol und der Fehde Tusk-Kaczyński, ein wirklicher Neubeginn für die polnische Politik. Möglich, dass schon der nächste Wahlkampf nicht mehr nur ein Zwei-Lager-Kampf ist, sondern einer um die Sprengung des Duopols. Für diesen Fall wollen vor allem Tusks Koalitionspartner noch die Möglichkeit erhalten, sich zu profilieren. Den oppositionellen Rechtsextremen von der Konfederacja, die Steuern und EU ablehnen, gelingt es derzeit sehr viel besser, Wähler anzuziehen.