Literaturhäuser sind eine Besonderheit des deutschsprachigen Raums; mittlerweile summiert sich ihre Zahl in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein auf fast fünfzig. Die erste Einrichtung dieser Art öffnete 1986 in Berlin, aber noch ein Jahr früher wurde in Hamburg der dortige Literaturhausverein gegründet, der indes bis 1989 warten musste, ehe er sein Domizil bekam: eine Reihenhausvilla des neunzehnten Jahrhunderts direkt an der Außenalster, damals vom Abbruch bedroht, dann gerettet durch das Engagement des Vereins und die finanzielle Hilfe der Zeit Stiftung Bucerius, die das Gebäude erwarb. Es ist das zweitälteste Literaturhaus, doch dank seiner Lage und dem riesigen Ballsaal, in dem die Lesungen stattfinden, zweifellos das schönste.
Und es war das einzige Literaturhaus, das in der Frühzeit dieser Institutionen unter weiblicher Programmleitung stand: Es begann 1989 mit Christina Weiss, später bekanntgeworden als Staatsministerin für Kultur, und ihr folgte 1992 Ursula Keller. Aber geprägt wie kein anderer hat das Haus ein Mann: Rainer Moritz, der 2005 das Außenalsterufer wechselte, als er den Chefposten beim Verlag Hoffmann & Campe gegen den beim Literaturhaus eintauschte. Morgen, nach zwanzig Jahren im Amt (was ihn zusammen mit dem früheren Münchner Kollegen Reinhard G. Wittmann zum Rekordhalter unter den Literaturhausleitern macht), ist sein letzter Tag.
Medienmeister aller Klassen
Mit ihm geht der Sicht- und Hörbarste unter allen seinen Kollegen. Moritz’ Präsenz in Medien und Verlagsprogrammen darf man ubiquitär nennen, aber nicht durch Skandale, sondern durch sein Engagement und Wissen als Literaturwissenschaftler, Fußball- und Schlagerliebhaber, dessen Expertise vielgefragt ist, sowie als Autor (sechs Romane, ungezählte Sachbücher), Biograph (Richard Yates) und Übersetzer aus dem Französischen (Sagan, Simenon, Bost). Allein in diesem Jahr sind zwei neue Bücher von Moritz zu verzeichnen: Gerade erschienen ist „Lieben Sie Madame Bovary?“, ein Verzeichnis seiner Lieblingsfiguren der Weltliteratur, und für den Herbst ist angekündigt „Das Jahr in Büchern – Literaturtipps für jeden Tag“. Es passt zum unermüdlichen und detailversessenen Verfasser, dass die Zahl der Einträge darin 366 beträgt, auch wenn das nächste Schaltjahr noch länger aussteht. An der Langzeitwirkung von Literatur hegt Rainer Moritz keinen Zweifel.

Dass er bis über die Altersgrenze hinaus blieb, darf Hamburg ein Geschenk nennen. Zum Dank schenkte es ihm am vergangenen Freitag, dem Vorabend des Geburtstags von Rainer Moritz, einen Abschiedsabend im Literaturhaus. Dem in der kommenden Woche ein Begrüßungsabend folgen wird: für die neue Chefin Antje Flemming. Die Entscheidung für sie darf man eine Hausberufung im schönsten Sinne nennen, denn die 1974 in Chemnitz (damals noch Karl-Marx-Stadt) geborene Germanistin und Amerikanistin ist dem Hamburger Literaturhaus noch länger verbunden als Rainer Moritz: Von 2002 bis 2016 war Flemming dort für die Kommunikation zuständig. Dann wechselte sie in die Senatsbehörde für Kultur und Medien – als Referentin für Literatur, die seitdem in der Hansestadt noch mehr aufgeblüht ist. Moritz und Flemming, das war ein literaturinstitutionelles power couple, wie es keine andere Stadt besaß.
Kontinuität der Kulturkennerschaft
So ist die Kontinuität der Programmpflege im Literaturhaus garantiert, auch wenn der Name der neuen Leiterin keine Gesprächsreihe wie „März und Moritz“ gestatten wird, bei der ihr Vorgänger gemeinsam mit der Hamburger Kritikerin Ursula März mehr als fünfzig Mal mit jeweils wechselnden Gästen über literarische Neuerscheinungen gestritten hat. Und streiten kann man gut mit Rainer Moritz, der sein schwäbisches Temperament nicht verleugnet, aber es mit dem Charme seiner zeitweise französischen Wahlheimat verfeinert. Man muss sich allerdings als Gesprächspartner öfter als bisweilen erwünscht an eigene Irrmeinungen erinnern lassen: Rainer Moritz verfügt über ein phänomenales Gedächtnis.
Antje Flemming ist ein anderes Temperament, kämpft aber ebenso unbeirrbare für die Sache der Kultur. Mit ihr hat sich der Literaturhausverein eine Programmleiterin gesichert, die nicht nur Haus und dessen Gegenstand aufs Genaueste kennt, sondern auch Strukturen und Untiefen der hanseatischen Politik. Das Vertrauensverhältnis mit deren bunter Eminenz, des seit 2017 amtierenden Kultursenators Carsten Brosda, der auch im kommenden Berliner Kabinett wieder nicht Staatsminister für Kultur und Medien wird, war bei Rainer Moritz eng und wird es bei Antje Flemming wieder sein.
So war die Nachfolge keine Überraschung. Überrascht werden dagegen soll die neue Chefin selbst am 7. Mai am neuen Arbeitsplatz mit einem Abend, den die Hamburger Literaturszene für sie ausrichtet – das Programm ist der Programmleiterin unbekannt. Während Rainer Moritz sich für seine letzten beiden Abende im Literaturhaus Vertrautestes beschert hat: Heute Abend liest er selbst zu Chansonbegleitung Texte über französisch-kulinarische Lebensart, morgen lässt er sich von Christian Brückner und Tilman Spreckelsen, Redakteur dieser Zeitung, zu Wilhelm Hauff vorlesen, dem schwäbischen Landsmann, mit dem ihn aber eines nicht verbindet: Ein kaltes Herz hat Rainer Moritz nie gekannt.