Den Auftakt macht ein Kabinett mit drei Bildern. Candida Höfer und Thomas Struth zeigen traditionelle Wissensspeicher, die Bibliothek des Augustiner-Chorherrenstifts Sankt Florian nahe Linz und das Pergamonmuseum in Berlin. An der Stirnseite hängt Michael Najjars aus vielen digitalen Einzelbildern zusammengesetztes Tafelbild „orbital ascent, 2016“, das den Start einer Ariane-Rakete vom Weltraumbahnhof Kourou zeigt – als maximalen thematischen Kontrast ein Aufbruch ins Unbekannte, eine symbolische Überwältigung. Die auf ihrer kilometerhohen Abgaswolke Richtung Weltall stürmende Rakete hat mit dem Planeten, auf dem Menschen ihr Wissen auf Papier festhielten, es in Büchern banden und in Regale stellten, nicht mehr viel zu tun.
Bild gewordene Aufklärung
Wie also leben wir heute? Das will „Civilization“ untersuchen, eine globale Wanderausstellung, die vom National Museum of Modern and Contemporary Art in Seoul und der Foundation for the Exhibition of Photography Minneapolis/Lausanne konzipiert und 2018 auf Reisen geschickt wurde. Nach Seoul, Peking, Melbourne, London und Taipeh macht sie in München Station, nächstes Jahr in Zürich. Die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung feiert mit diesem Gastspiel ihren vierzigsten Geburtstag. Als Mieterin im Herzog-&-de-Meuron-Bau an der Theatinerstraße verfügt sie über keine eigene Sammlung; mit ihren Ausstellungen kommt sie auf durchschnittlich gut 300.000 Besucher pro Jahr.
Zum Jubiläum nun also eine Ausstellung, über die man mit Marc-Uwe Kling sagen könnte „Viel Schönes dabei“. Schön nicht im Sinn von Kunstfotografie, sondern im Dienst einer Bild gewordenen Aufklärung, die in unterschiedlichster Form den Zustand des von der Menschheit bereits stark angenagten Planeten auf den Punkt bringt. Seit 1972 das Bild des Blauen Planeten als verletzlicher Murmel in den Weiten der Galaxie in das kulturelle Gedächtnis einging, wuchs das Gefühl der Zerbrechlichkeit – beim sensibleren Teil der Menschheit, die auf 8,2 Milliarden Menschen angeschwollen ist, wovon mehr als die Hälfte in Städten lebt.
Acht Abteilungen gliedern die Ausstellung, eher Hilfsschubladen als Sachgebiete wie in einer alteuropäischen Bibliothek à la Sankt Florian: Bienenstock, Zusammen Allein, Kontrolle, Fließen, Verführung, Brücke, Entfliehen und Als Nächstes. Das Beliebige der Einteilung gehört in gewisser Weise zum Konzept, dessen Grundgedanken der neue Kurator der Kunsthalle, Stefan Kirchberg, so formuliert: „Wir leben im Zeitalter einer Zivilisation.“ Die One-World-Flagge des Münchners Thomas Mandl – ein blauer Kreis auf weißem Grund – illustriert diese These.
Kirchberger hat mit William A. Ewing, Holly Roussell und Anja Huber die Welt des Internets nach neuen, unbekannten Fotografen durchkämmt. Seit der ersten Station sind sieben Jahre vergangen, die Covid-19-Pandemie hat die Weltsicht verändert. Gezeigt werden 240 Bilder von 110 Fotografen, wenig bekannten, aber auch sehr bekannten. Der Großteil kann auch als Appell an den Betrachter gelesen werden: Prüfe dich, inwieweit du Mitverursacher und Nutznießer bist.
Denn der Mensch vergeht im Anthropozän, und dazu braucht er Rohstoffe für die Handyproduktion. Edward Burtynsky dokumentiert etwa den Preis, den der Lithium-Abbau in der chilenischen Atacama-Wüste fordert. Die Becken schimmern in aparten Grün-, Gelb- und Silbertönen, geben auf den ersten Blick ihren toxischen Charakter nicht preis, sondern wirken wie ein überdimensionaler Malkasten inmitten einer steinigen Ebene. Chris Jordan hat die größten Plastikmüllinseln der Ozeane nahe den Midwayinseln besucht. Im Gewirr des zu einem gigantischen Teppich verdichteten Plastikmülls sind auch Reste von Tierkadavern eingebacken. So wird „Midway. Message from the Gyre“ (2009) zu einem morbiden Stillleben.
Ästhetisierter Horror
Auch sich selbst ist der Mensch der größte Feind, wie Raphaël Dallaportas Aufnahmen sogenannter Antipersonenwaffen zeigen. Land- oder Tretminen sind wie nobles Konfekt auf schwarzem Hintergrund arrangiert, ästhetisierter Horror, den Begleittexte kontextualisieren. Der in der Pandemie mit Bildern aus dem besonders schlimm betroffenen Bergamo bekannt gewordene Italiener Alex Majoli zeigt aus der Serie „Covid“ die Opernsängerin Laura Baldassari, wie sie in einer Haustür steht und für die Nachbarn Händel singt. Die 1983 in München geborene Louisa Marie Summer, als Dokumentarfotografin Expertin für soziale Schieflagen, verschafft sich – wie, bleibt ihr Geheimnis – weltweit Zutritt zu Gefängnissen. In einem argentinischen Hochsicherheitstrakt porträtiert sie Männer in Zivilkleidung, die vor ihren gelben Zellentüren posieren. Alternative Vollzugsmodelle, mit einem Hauch von Menschlichkeit.
Umweltzerstörung im Stil der Vereinigten Staaten: Michael Light hat in den Bergen Nevadas dokumentiert, wie Gipfel geschliffen und zu Bauplätzen begradigt werden, auf denen dann „Luxury Homes in Las Vegas“ nebst Kasino und künstlichen Seen entstanden. Es ist eben von allem zu viel, was die Spezies anrichtet: Die schwimmenden Städte des „Overtourism“ hat Jeffrey Milstein effektvoll aus der Luft aufgenommen – seine Kreuzfahrtschiffe wirken wie Raketen mit dem organischen Inneren einer Zelle. Für ein Bad in der Masse muss man keineswegs verreisen, wie Manuel Pickers Überflugbild vom Münchner Konzert Taylor Swifts im vergangenen Sommer zeigt: Die Aufnahme des Olympiageländes füllt eine ganze Wand und entlockt einer Besucherin, die dabei war, Entzückungsrufe.
Mit einem Ausblick in den Weltraum entlässt die Ausstellung die Besucher. Auf dem Boden des letzten Saals ist eine mit Infrarotkameras des James-Webb-Teleskops aufgenommenes Panorama unserer Galaxis zu sehen. Und die Sonde Voyager wirft, bevor sie sich für immer in die Tiefen des Raumes verabschiedet, einen letzten Blick zurück in Richtung Erde aus sechs Milliarden Kilometer Entfernung. Ein blassblauer Punkt. Dort beginnt gerade eine neues Zeitalter. Mathieu Bernard-Reymonds surrealistische Phantasie „Das romantische Abendessen“ (2022) ist – nach Kenntnisstand des Kurators – das einzige mit KI generierte Bild der Ausstellung. Amuse-Gueule einer Zivilisation, welche die hier gezeigte ablösen wird?
„Civilization. Wie wir heute leben“, Kunsthalle München, bis 24. August. Das Magazin kostet im Museum 16 Euro.