Dass Jean Genets Roman „Querelle de Brest“ in Deutschland einen immensen Ruf genießt, verdankt sich Rainer Werner Fassbinders Verfilmung, die im September 1982 in die Kinos kam – nur wenige Monate, nachdem der Regisseur überraschend gestorben war. Das Werk war exzellent besetzt (Brad Davis, Jeanne Moreau, Franco Nero, Günther Kaufmann, Burkhard Driest), und seine Bildgewalt hat seitdem die Oberhoheit über den Text gewonnen: Aus einem entstehungszeittypisch geradezu neorealistischen Roman (das Buch erschien 1947, und Genet hatte seit 1944 daran geschrieben) war eine Phantasmagorie geworden, die von der realen bretonischen Hafenstadt Brest nichts mehr übrig ließ. Konsequenterweise hieß Fassbinders Film nur noch „Querelle“. Das ist der Name der Hauptfigur, aber auch das französische Wort für Streit.
Georges Querelle ist Matrose und Mörder; in den Häfen hinterlässt er nicht Bräute, wie es das Klischee will, sondern Leichen. Auch in Brest, das im Roman noch die düstere Atmosphäre der deutschen Besatzungszeit spüren lässt, bringt er jemandem um, doch der Verdacht fällt auf einen anderen Mörder, der sich in den verlassenen Festungsanlagen der Stadt verbirgt und ausgerechnet von Querelle mit Lebensmitteln versorgt wird – und mit einem Fluchtplan, der an die Polizei verraten wird. So kommt der einfache Mörder aufs Schafott und der mehrfache davon.

Das klingt unmoralisch, und es wurde, als „Querelle de Brest“ 1955 bei Rowohlt erstmals auf Deutsch erschien, bei der Staatsanwaltschaft auch sofort ein Indizierungsantrag gestellt. Aber nicht der eben skizzierten Handlung wegen, sondern aufgrund der expliziten Schilderung homosexueller Handlungen. Genets Buch ist eine Hymne an die Körper, eine – durchaus auch witzige – Beschwörung von Gesten, Posen, Praktiken von Männern, die sich gegenseitig immer wieder versichern, dass es sich dabei nur um Ausnahmen handele; eigentlich liebe man ja ausschließlich Frauen. Doch eine gewalttätig konnotierte homosexuelle Sexualität durchzieht das Geschehen, die ihren intensivsten Ausdruck in der Figur des Leutnants Sablon als Vorgesetztem Querelles findet. In Sablons Beobachtungen und Notate sind Einsamkeit, Sehnsucht und Phantasien eingeflossen, die Genet als vielfach zu Haftstrafen verurteilter Dieb kennengelernt hatte. In der Offenheit der entsprechenden Schilderungen war „Querelle de Brest“ in der frühen Nachkriegszeit eine Sensation. Und ein Skandal.
Die Kürzungen in den deutschen Ausgaben
Rowohlt hatte gehofft, einem Verbotsantrag durch eine obligatorische Verpflichtungserklärung der Käufer, das Buch nicht in andere Hände zu geben, zu entgehen. Es half nichts, weshalb sich der Verlag dazu verpflichtete, das noch auf Lager befindliche Drittel der Auflage von 1500 Exemplaren zu vernichten, um einem Verfahren zu entgehen. Erst zehn Jahre später – Genet war in Frankreich längst eine literarische Legende zu Lebzeiten – wagte Rowohlt eine Neuausgabe, die allerdings in der Textgestalt der mittlerweile vom Autor selbst gekürzten französischen Version folgte. Und schon in der deutschen Erstausgabe waren 41 Auslassungen erfolgt, allerdings eher zur Vermeidung von Redundanzen als aus sittlichen Erwägungen.
Nun aber ist „Querelle de Brest“ auf Deutsch vollständig zu lesen, im Rahmen der Genet-Werkausgabe, die seit 1998 im Merlin-Verlag erscheint. Der war nach Rowohlts Versuch zur deutschen Adresse für Genet geworden – ganz buchstäblich sogar, denn der französische Autor hatte bei dem 1957 als Bühnenverlag gegründeten Haus zuerst die deutschen Fassungen seiner Dramen veröffentlichen lassen (allen voran „Die Zofen“) und dann seinen 1944 erschienenen Debütroman „Notre-Dame-de Fleurs“ zur ersten deutschen Übersetzung angeboten. Dadurch wurde Merlin zum literarischen Verlag, und da auch gegen dieses Buch sofort ein Verbotsverfahren wegen seines „unzüchtigen Inhalts“ angestrengt wurde, war der Name Merlin bald in aller Munde . Der Verleger Andreas J. Meyer dachte im Gegensatz zu Rowohlt gar nicht an einen Kompromiss, und das Gericht gab ihm 1962 recht: Der künstlerische Gehalt überwiege die bedenklichen Passagen bei weitem. Einer der Gutachter war Friedrich Sieburg gewesen, damals Literaturkritiker dieser Zeitung.
Dank Crowdfunding wurde die Ausgabe möglich
Meyer und Genet blieben fortan literarisch untrennbar, und nach dem Tod des Schriftstellers konzipierte der Verleger die Werkausgabe, die nunmehr die „Urfassungen“ rekonstruieren sollte – gemäß den ersten französischen Publikationen. Dafür wurden nach dem jeweils neuesten Stand der philologischen Forschung in Frankreich die alten Übersetzungen durchgesehen und wo nötig ergänzt, auch im Falle von „Querelle“, wie der Bearbeiter der Werkausgabe, Friedrich Flemming, in seinem editorischen Bericht erläutert.
Dieser Bericht ist datiert auf 2002, und tatsächlich war damals bereits die Text-Arbeit an „Querelle de Brest“ abgeschlossen; seit 2007 lag das Nachwort der Literaturkritikerin Ina Hartwig vor. Doch die Veröffentlichung des Buchs ließ weitere siebzehn Jahre auf sich warten, Flemming starb 2020 darüber. Grund für die wiederholten Verschiebungen waren finanzielle Schwierigkeiten für den kleinen Merlin-Verlag, doch 2019 nahm Meyers mittlerweile zur Verlagschefin aufgestiegene Tochter Katharina Eleonore Meyer das Herzensprojekt ihres Vaters nach dreizehn Jahren Unterbrechung wieder auf. Die Bände VIII und IX mit Dramen und Essays erschienen, und für „Querelle de Brest“- wurden noch fehlende sechstausend Euro mittels eines Crowdfundings gesammelt. Und nun ist der Band endlich da. Ina Hartwig, die ihr x-fach verschobenes Nachwort zwischenzeitlich in einen eigenen Essayband aufgenommen hatte, setzte sich noch einmal daran und aktualisierte ihren schönen Text, und so ist die neunbändige Werkausgabe nun zum Abschluss gelangt, im neunundneunzigsten Lebensjahr von Andreas J. Meyer. Obwohl: Auf der vorletzten Seite ist ein Band X mit Nachlasstexten angekündigt. Wir werden sehen. Und gerne warten.
Jean Genet: „Querelle de Brest“. Roman. Werke in Einzelbänden, Band IV.
Aus dem Französischen von Ruth Uecker-Lutz. Nachwort von Ina Hartwig. Merlin Verlag, Gifkendorf 2024. 396 S., geb., 32,– €.