Schicksal ohne Götter, sondern mit Auto. Der Magdeburger "Polizeiruf" löst seine Fahrerflucht-Geschichte auf recht eigentümliche Weise.
4. Mai 2025, 21:45 Uhr
Der neue Magdeburger Polizeiruf, ursprünglich zur Ausstrahlung Anfang Februar vorgesehen, trägt den Titel Widerfahrnis (MDR-Redaktion: Denise Langenhan, Johanna Kraus, Adrian Paul). Klingt wie ein Roman von Bodo Kirchhoff, ein Wort aus alter Zeit, ein "gehobener" Ausdruck, bei dem man erst mal das Geschlecht nachschlagen muss, weil es so selten Verwendung findet. Dabei ist die Bedeutung ziemlich schlicht: Das Widerfahrnis ist halt das, was einem widerfährt.
Wie Schicksal ohne Götter, dafür mit Auto. Die mysteriöse Frau, um deren Geschichte sich der Polizeiruf dreht, ist auf der Landstraße von einem fahrerflüchtigen Kfz ins Koma bugsiert worden. Die Zeit im Krankenhaus zwischen nicht so aufregendem Nicht-ansprechbar-sein (Anfang) und spannungslosem Doch-nicht-wieder-aufwachen (Ende) verbringt Kommissarin Brasch (Claudia Michelsen) damit, herauszufinden, was es mit dieser Frau auf sich hat.
Die mysteriöse Unbekannte heißt Sandra Polzin (Mareike Sedl), war einst happy mit Mann (Knut Berger) und Kind, bis die Familie durch das Ehepaar Tamm auf der Autobahn rechts überholt und in einen Unfall verwickelt wurde. Tamms begingen Fahrerflucht, Sandra überlebte als einzige.
Jahre später kehrt Sandra Polzin nach Magdeburg zurück, wo sie von der netten Berna (Rosa Özkan) mit niedlicher Tochter (Soraya Maria Efe) in die Wohnung aufgenommen wird, obwohl sie kein Wort spricht. Sandra verdingt sich als Reinigungskraft, um René Tamm zu finden. Am Ende lässt sie sich von ihm überfahren. Was diesmal die Sexarbeiterin Dorota (Iza Kala) beobachtet, sodass Tamm vor Gericht verurteilt wird. Nicht ganz klar ist, ob Sandra sich damit opfert, um Gerechtigkeit zu erzwingen (die erste Fahrerflucht war schon verjährt), oder ob sie den Suizid sucht, weil ihr das Dasein ohne Familie nicht mehr lebenswert erscheint. Es ist irgendwie beides, und das ist irgendwie unbefriedigend.
Der Einfall (Drehbuch: Zora Holtfreter, Lucas Thiem), dass sich ein Unfallopfer vor ein Auto wirft, um den Täter von damals in die Verurteilung zu zwingen, ist zumindest unüblich. Und auch etwas unscharf, weil sich als später Clou des Films in der finalen Rückblende herausstellt, dass René Tamm (Stephan Kampwirth) nach dem Autobahnunfall, den er kurz begutachtet, auf der Beifahrerseite wieder einsteigt und seine Frau (Martina Ebm) am Steuer sitzt.
Überraschende Twists, die einer spannenden Rätsellösung zuarbeiten sollen, brauchen Tempo, Rhythmus und Verwicklung. Dieser Polizeiruf aber dehnt seinen einfachen Grundgedanken über 90 Minuten aus – mit so vielen bedeutungsvollen Pausen, dass man durchaus in Versuchung geraten könnte, den Film mit erhöhter Geschwindigkeit abzuspielen.
Was vom Vorspulen abhalten soll, ist der Kunstbefehl, der nicht nur vom altmodischen Titel Widerfahrnis ausgeht. Die Musik von Iva Zabkar ist damit beschäftigt, die molligen Gefühlslagen der trüben Hauptfigur mit großer Geste hin zu einem Erlösungspathos hochzustreichern, bei dem am Ende hellstes Licht vom Himmel runterscheint. So wie final im Krankenhauszimmer, wenn Sandras Tod markiert werden soll.
Und in der Szene, in der sich René Tamm und Sandra Polzin im Wald begegnen, aufgenommen aus einer auf Symmetrie bedachten Totalen (Kamera: Moritz Anton), regnet es stimmungsvoll-dramatisch. Im Dialog wäre die nicht erkennbar gewesen, denn die bemitleidenswerte Mareike Sedl darf in der Episodenrolle, abgesehen von einem Auftakt-"Gleich", erst ab der 55. Minute unter Beweis stellen, dass sie auch zwei Worte ("Mäuschen, Entschuldigung") und danach ganze Sätze sprechen kann.
Bis dahin läuft diese Sandra Polzin schweigend durch den Film, was wohl als Ausdruck ihrer Traumatisierung und Trauer gedacht ist, vielleicht auch, gesellschaftskritisch gelesen, als Anklage gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt. Widerfahrnis verfügt damit über eine zu völliger Passivität verdonnerte Protagonistin, die gegen Kritik schon immer imprägniert zu sein scheint, weil sie es nun mal schwer hat im Leben. So lässt sich clever das Mitgefühl der Betrachterin erpressen. Regisseur Umut Dağ hatte sich schon in der ZDF-Serie Der Anschlag – Die Macht der Kränkung (2021) darauf verstanden, den politischen Gehalt eines Terroranschlags in unspezifische, aber übertrieben ausgedehnte Leidensgeschichten zu gefühlszuverbreien (Drehbuch damals: Agnes Pluch), wobei ebenfalls eine Frauenfigur allein auf ein Schicksal festgelegt war. Komplexität gibt's nicht für alle.
Wie absurd das Schweigen der Sandra Polzin ist, zeigt sich dabei nicht nur in der direkten Begegnung mit René Tamm im Wald, bei der dieser ein Selbstgespräch vor der Frau im Auto aufführen muss. Als man sich gerade damit abgefunden hatte, dass diesem Polizeiruf offenbar eine schweigende Hauptfigur widerfahren ist, bricht schließlich das unschuldige Kind von Berna das Eis.
Vom Kunstwollen des Films sind auch die Figuren betroffen, die die ganze Zeit reden dürfen. Claudia Michelsens Ermittlerin presst am Krankenbett von Sandra so viel Drama in ihre geflüsterten Fragen, als guckte das ausverkaufte Hamburger Schauspielhaus beim Höhepunkt von Antigone zu. Man kann das auch unfreiwillig komisch finden.
Oder anders gesagt: Man hätte dem am 6. Februar 2024 verstorbenen Pablo Grant, der hier seinen letzten Auftritt als Assistent Günther Márquez hat, einen besseren Film für den viel zu frühen Abschied gewünscht.