Er hat immer nach Vorlage gearbeitet. Und versucht, sie zu übertreffen. Es gibt kein Buch von Wolfgang Herrndorf, das nicht auf dem Studium eines Formats basiert: Jugendbuch, Thriller, Poproman. Herrndorf hat sich immer genau angeschaut, wie andere es vor ihm gemacht haben – um es dann besser zu machen. So ist sein Klassiker „Tschick“ (2010) entstanden: In dieser Geschichte über zwei Jungs, unterwegs im geklauten Auto auf der Suche nach dem Glück, finden sich nicht nur Motive von Mark Twain; Herrndorf hatte die Regeln des Genres erfasst und angewendet.
Genauso war es beim preisgekrönten Spionageroman „Sand“ (2011). Und selbst in dem Journal, das zu Herrndorfs Vermächtnis geworden ist, „Arbeit und Struktur“, in dem er sein Leben mit dem unheilbaren Hirntumor dokumentierte, der im Februar 2010 bei ihm diagnostiziert wurde, erkennt man den Wunsch, das betagte Format „Schriftstellertagebuch“ an die Gegenwart anzupassen.
Herrndorf hielt in diesem Blog fest, wie das Leben mit der Krankheit auch sein Leben mit der Kunst veränderte – aber erzählte auch, für die Öffentlichkeit zum ersten Mal, von seinen Anfängen als Malereistudent in Nürnberg. Wenn man auf das Werk des 2013 verstorbenen Künstlers zurückschaut, muss man sagen: In diesen frühen Jahren als Maler liegt der Kern zu den literarischen Werken, mit denen Herrndorf ab 2010 berühmt wurde. Der Autor Herrndorf hat imitierend zu seinem eigenen Ton gefunden.
Und diese künstlerische Position findet er früh, als Maler. Herrndorf hat nicht versucht, dieses erste Kapitel seiner Karriere zu verstecken – aber es hat ihn zutiefst unglücklich gemacht. Weil er in der bildenden Kunst an dem gescheitert ist, scheitern musste, was ihn in der Literatur später zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation machte („Tschick“ hat sich inzwischen über vier Millionen Mal verkauft). Denn der Maler Wolfgang Herrndorf, und auch schon der ganze junge Maler, der Gymnasiast aus Norderstedt, orientierte sich an Vorbildern – nur waren die so unerreichbar groß und zugleich aus der Zeit gefallen, dass es nicht gut gehen konnte, was er da versuchte: zu malen wie Dürer und Vermeer, weil nur die in Herrndorfs Augen zählten.
Kunst als sportlicher Ehrgeiz
Als Schüler war Herrndorf regelmäßig in die Hamburger Kunsthalle gefahren, um dort ein Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren zu kopieren, es zeigt den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Großmütigen, entstanden um 1532. Aber es war 1980. Er baut sich damals auch eine Camera obscura, wie sie schon Dürer zum Abzeichnen benutzte. Woher diese Leidenschaft für diese Art der Malerei kam, können Herrndorfs Eltern (bei denen die Cranach-Kopie bis heute liegt) nur vermuten, es wird auch der Ehrgeiz gewesen sein, in einer extrem sportlichen Familie aufzuwachsen, da zählen nur Bestwerte.

Aber damals beginnt eine Fixierung auf Perfektion, die Herrndorf bis ans Lebensende begleiten wird. Und Perfektion in der Malerei hieß für ihn nicht Picasso oder Caspar David Friedrich (so was war für ihn erklärtermaßen Schrott), sondern eben Cranach oder Vermeer, gerade der. Den niederländischen Barockmaler verehrte Herrndorf wie einen Gott (an den er im Übrigen nicht glaubte).
Verstehen, wie Cranach zu malen
Es gibt diese Geschichte vom amerikanischen Autor Hunter S. Thompson, der sich hinsetzte und den „großen Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald abtippte, nur um zu wissen, wie es sich anfühlt, solche Sätze zu schreiben. Herrndorfs Kopie eines Cranach muss man sich ähnlich vorstellen: verstehen, wie das ist, so zu malen. Herrndorf wird 1986 an der Nürnberger Akademie angenommen und erlebt dann sechs Jahre wachsender Frustration, weil so gut wie niemand dort begreifen kann, warum dieser junge Mann im Zeitalter der Videokunst und Performance malt, wie er malt. Früh gewinnt Herrndorf trotzdem einen Akademiepreis für seine Romeo-und-Julia-Szene unter einem Torbogen, die altmeisterliche Manier regt einen Kommilitonen aber so auf, dass der ein Protestschreiben verfasst und an der Akademie verteilt. Es endet mit dem Ruf: „Hier ist eine Akademie und kein Spießerverein!“ Herrndorf hat das Flugblatt sein Leben lang aufbewahrt.
Aber auch wenn er selbstbewusst genug war, alle anderen um ihn herum für Trottel zu halten, die „mannshohe Leinwände mit Schrubbern vollmalten“, wie er es Jahre später in einer autobiographischen Erzählung nannte: Herrndorfs unstillbarer Perfektionsdrang, seine hohen Ansprüche, unerreichbaren Maßstäbe und auch seine Dickköpfigkeit manövrieren ihn in die Isolation. 1992 ernennt ihn seine Professorin Christine Colditz zum Meisterschüler. Aber Herrndorf will mit dem Kunstbetrieb nichts zu tun haben. Zeit seines Lebens zeigte er seine Werke nicht öffentlich (erst zwei Jahre nach seinem Suizid, im Sommer 2015, wird eine kleine Auswahl seiner Bilder in den Räumen des Berliner Literaturhauses in der Fasanenstraße gezeigt und zur erfolgreichsten Ausstellung, die dort je stattgefunden hat).
Eine Mappe für die „Titanic“ ändert alles
Herrndorf arbeitet allerdings an einer Mappe mit Illustrationen und Cartoons – und schickt sie an ein Magazin, das er ungefähr seit den Tagen abonniert hat, als er den Cranach abmalte: „Titanic“. Die Frankfurter Redaktion ist begeistert, Herrndorf wird engagiert, steuert ab 1994 Illustrationen und Cartoons bei. Über die „Titanic“ wechselt Herrndorf von der Kunst ins Literaturmilieu, hier wird er Leute kennenlernen, die schreiben, und es bald auch selbst tun.
Aber bis dahin dauert es noch. Erst einmal versorgt er das Magazin mit Bildern, die Herrndorfs spektakuläre Technik zeigen. Sie zeigen auch, was geschieht, wenn man etwas aus dem Kontext reißt und in einen anderen stellt – plötzlich ergibt alles doch einen Sinn. Er hat es immer ernst gemeint, doch erst im Witz zeigte sich, was in diesen Arbeiten stecken könnte.
Im Frühjahr 1996 schickt Herrndorf einen Jan Vermeer nach Frankfurt. Das Bild zeigt den Kanzler der deutschen Einheit, lesend am Fenster. Herrndorf hatte, offenbar inspiriert durch die große Vermeer-Ausstellung in Den Haag, die damals die Massen anzieht, Helmut Kohl in das Setting der „Briefleserin in Blau“ (1662–1664) gemalt. Die „Titanic“ ergänzt nur noch die Ausstellungsdaten „1. März–2. Juni 1996, Den Haag, Mauritshuis“ und druckt das Plakat im April-Heft.

Sobald man die Irritation, wann Vermeer nur Kohl gemalt haben könnte, überwunden hat, erkennt man, was der ernste altmeisterliche Maler Herrndorf bis dahin in seinen Lasurarbeiten allenfalls angedeutet hatte: dass sich aus dem Abstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Damals und Heute, Heiligem und Profanem, Historischem und Beiläufigem ein Humor ergibt, der von der menschlichen Vergeblichkeit weiß, von der unaufhaltsamen Vergänglichkeit, von der Sehnsucht nach Bedeutung und Bleiben. Außerdem ist es einfach komisch, den massiven Körper Kohls in die stillstehende Zeit eines Vermeer-Gemäldes zu stellen. In der Folge malt Herrndorf den Kanzler noch in die triste Großstadtnacht von Edward Hopper, in die blaue Phase Picassos, in die Biedermeierlichkeit Spitzwegs, und jedes Mal funktioniert es wieder.
Kohl sieht „Klassiker Kohl“ auf der Frankfurter Buchmesse 1997
Auf der Buchmesse 1997 gelingt es dem Haffmans-Verlag, der aus diesen Imitationen einen Kalender für das Jahr 1998 produziert, „Klassiker Kohl“ betitelt, den Kanzler beim Rundgang an seinen Stand zu bringen. Nach gleichlautenden Augenzeugenberichten blättert Kohl dort durch die Monate, nickt angetan, offenbar ganz und gar einverstanden mit seiner historischen Größe auch auf dem Feld der Kunst.
Als er beim November ankommt, stockt Kohl. Das Blatt zeigt ihn selbst im Stil von Georg Baselitz, der berühmt dafür wurde, seine Motive auf den Kopf zu stellen (was Herrndorf natürlich bescheuert fand). Kohl dreht den Kalender um und wieder zurück, dann zieht er ab. Das Kanzleramt hatte fünfzig Exemplare des Kalenders bestellt. Die komplette Auflage von 40.000 Exemplaren wird verkauft, der Kalender ist heute vergriffen. Es ist der größte Erfolg, den Wolfgang Herrndorf bis dahin erleben durfte.
Der noch weitgehend unbekannte Maler selbst aber versteckt sich, als Kohl an den Messestand kommt, und beobachtet die Szene von Weitem. Der Autor Wolfgang Herrndorf aber, der von der Imitation die Kunst des Erzählens gelernt hat, wird sich bald zeigen.