Der Historiker Gerd Krumeich wird 80: Warum Kriegsverlierer nach Rache dürsten

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Im September 2014 saß Gerd Krumeich mit dem australischen Geschichtswissenschaftler Christopher Clark auf einem Po­dium des Göttinger Historikertags. Sie sprachen über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und Clarks Bestseller „Die Schlafwandler“, und am Ende fragte der Moderator jeden der beiden, was er in den kommenden Jahren vorhabe. Krumeich, an der Universität seiner Geburtsstadt Düsseldorf seit 2010 emeritiert, hatte zwei Projekte: eine neue Biographie von Johanna von Orleans und eine umfassende Darstellung der historischen Diskussion über die Frage der deutschen Kriegsschuld.

Das erste Vorhaben hat Krumeich vor vier Jahren in seinem Buch „Jeanne d’Arc. Seherin, Kriegerin, Heilige“, einer erweiterten und aktualisierten Fassung seiner Habilitation von 1989, realisiert. Das zweite ist er der Leserschaft schuldig geblieben. Oder besser: Er hat es auf mehrere Bücher verteilt.

Die Weimarer Republik war vom Schuldspruch traumatisiert

Denn sowohl „Die unbewältigte Niederlage“, seine Bilanz der Weimarer Republik von 2018, als auch der im vergangenen Jahr erschienene Band „Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann“ kreisen ganz wesentlich um die Kriegsschuldfrage. Dabei versucht Krumeich nicht, ein abschließendes Urteil über die Schuldverteilung zwischen dem deutschen Kaiserreich und seinen Gegnern zu fällen, wie es Fritz Fischer vor mehr als sechzig Jahren tat. Stattdessen zeichnet er die Wirkung des Verdikts, mit dem der Friedensvertrag die ganze Schuld den Deutschen zusprach, auf die kollektive Psyche der deutschen Bevölkerung nach.

Die Weimarer Republik, so Krumeich, war von dem Schuldspruch der Alliierten traumatisiert, und dieses Trauma überschattete die gesamten fünfzehn Jahre ih­rer Existenz. Es verhalf Hitler zur Macht, der die „Schande von Weimar“ zu tilgen versprach, und es stärkte den Glauben an die historische Mission des „Führers“, als der Feldzug gegen Frankreich, der 1914 gescheitert war, im Mai und Juni 1940 tatsächlich gewonnen wurde.

Krumeichs Analysen sind heute aktueller als je zuvor

Kritiker beider Bücher haben Krumeich eine einseitige Fixierung auf den Krieg und seine Folgen vorgeworfen. Dabei setzt der Historiker, der seine erste Professur in Freiburg bekleidete, nur rückwirkend eine Erkenntnis um, die sich aus der Betrachtung der jüngsten Geschichte Russlands unter Putin zwingend ergibt: Kriegsverlierer, auch solche des Kalten Krieges, dürsten nicht nach Reue, sondern nach Rache. Krum­eichs Analysen sind heute aktueller, als uns lieb sein kann.

Dass Krumeich mit Clark auf dem Podium saß, war kein Zufall. In seiner Generation deutscher Historiker ist er die führende Autorität zum Ersten Weltkrieg, und so wird er auch jenseits des Rheins wahrgenommen. Sein Interesse am Thema entstammt nicht etwa einer Neigung zum Militärischen, sondern seiner Frankophilie. Schon die Dissertation des Schülers von Wolfgang J. Mommsen widmete sich der Rüstungspolitik Frankreichs vor 1914, und seit den Neunzigern hält Krumeich ständigen Kontakt zur französischen Historiographie, was sich in zahlreichen binationalen Herausgeberschaften und gemeinsam verfassten Publikationen niederschlug.

Die „Enzyklopädie Erster Welt­krieg“, für die Krumeich mit Irina Renz und Markus Pöhlmann verantwortlich zeichnete, ist längst ein Standardwerk, und auch auf seine Mo­no­gra­phie „Juli 1914“ kann keine historische Seminarbibliothek verzichten. Wer Gert Krumeich auf Tagungen erlebt hat, wird seine Auftritte nicht vergessen: Er erzählt die Geschichte, als hätte er sie selbst erlebt. Am Sonntag wird er achtzig Jahre alt.

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