Seit gut einer Woche hat Thomas Müller mit Sebastian Schonlau einen deutschen Kollegen in Vancouver. Der 35-Jährige freut sich über die Verstärkung, will aber nicht in die "deutsche Komfortzone" kommen. Er übernimmt Verantwortung, trifft nach fast fünf Jahren mal wieder vom Punkt und hält sich bei der DFB-Elf zurück.
Das Debüt von Thomas Müller bei den Vancouver Whitecaps gegen Houston Dynamo war noch unglücklich verlaufen. Erst hatte sein vermeintliches 2:0 kurz nach seiner Einwechslung aufgrund einer Abseitsstellung keine Anerkennung gefunden, dann glichen die Gäste auch noch kurz vor Schluss aus (1:1). Nur sechs Tage später, am vergangenen Sonntag, war er aber der gefeierte Mann, der die Kanadier in einem hochintensiven Spiel in der 14. Minute der Nachspielzeit per Elfmeter zum 3:2-Sieg gegen St. Louis City schoss.
Als "außergewöhnlich" beschrieb Müller die brutto letztlich 113 Minuten andauernde Partie in einer Medienrunde am Donnerstag. "Grundsätzlich war ich immer mit dem Trainer in Kontakt und weiß, wann es vielleicht auch nicht mehr geht. Aber ich habe mich gut gefühlt und war gut vorbereitet", erklärte der 35-Jährige, der über die volle Distanz spielte.
Müllers erstes Elfmeter-Tor seit 2020
Erstmals seit fast fünf Jahren verwandelte Müller in einem Pflichtspiel im Übrigen damit wieder einen Elfmeter, im Dezember 2020 hatte der Weltmeister von 2014 gegen Atletico Madrid vom Punkt getroffen (1:1). "Es gab natürlich Gründe, weshalb ich beim FC Bayern nicht mehr der Schütze Nummer eins war. Da muss ich ehrlich sagen, ich habe irgendwann im Laufe der Jahre meine Quote verloren. Die war die ersten etwa 30 Elfmeter fantastisch und wurde bei den letzten zehn bis 15 schlechter."
Ich habe im stillen Kämmerlein weiter fleißig Elfmeter trainiert, das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen.
Allein in der Saison 2015/16 vergab er viermal, anschließend war er deutlich seltener gefragt. "Es lag dann auch daran, dass extrem gute Elfmeterschützen kamen", spielte Müller auf Robert Lewandowski und Harry Kane an. "Lewa hat so ein bisschen meine damalige Technik kopiert und verbessert. Er hat trotz des Ausschauens deutlich fester schießen können als ich und unglaubliche Quoten aufgelegt. Und nach Lewa kam relativ zügig Harry, entsprechend war man da beim FC Bayern sehr gut aufgestellt."
In Vancouver sei es nun "eine andere Situation" für Müller. "Ich komme als sehr erfahrener Spieler in die Mannschaft und traue es mir da natürlich auch zu. Ich habe im stillen Kämmerlein weiter fleißig Elfmeter trainiert, das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen."
Zwar war der Routinier nicht als erster Schütze eingeteilt, in der Nachspielzeit der ersten Hälfte hatte bereits der anschließend ausgewechselte Brian White vom Punkt getroffen, "aber dass ich mir den Elfer dann schnappe und die Verantwortung übernehme, dafür wurde ich geholt. Zumindest ist das mein Verständnis." So trat Müller an und überwand Roman Bürki, gegen den er schon im Oktober 2015 bei Bayerns 5:1 gegen Dortmund erfolgreich gewesen war.
Im ersten Moment, als ich von der Verpflichtung gehört habe, habe ich gedacht: "Oh nein!"
Thomas Müller über Sebastian Schonlau
Seit Kurzem hat der 35-Jährige mit dem ehemaligen Hamburger Sebastian Schonlau auch einen deutschen Mitspieler an seiner Seite. Der Innenverteidiger blieb am Sonntag auf der Bank. "Im ersten Moment, als ich von der Verpflichtung gehört habe, habe ich gedacht: 'Oh nein! Ich wollte mich doch ganz schnell integrieren und ins kalte Wasser geworfen werden'", gab Müller einen Einblick in seine "Gedankenspiele". Natürlich freue sich die Bayern-Legende aber auch über den Neuzugang, der Vancouver "auf jeden Fall weiterhelfen wird", doch "jetzt muss ich aufpassen, dass ich nicht zu oft ausweiche und mich in die deutsche Komfortzone begebe".
Genau diese Komfortzone bringt jedoch auch so manchen Vorteil mit sich. "Den ein oder anderen Witz muss ich erst noch ins Kanadisch-Englische übersetzen. Da tut es mir vielleicht gut, wenn ich vorher einen Abnehmer habe, der auch die Witze versteht, mit denen ich mich noch schwertue", sagte Müller mit einem Lächeln. "Wir waren gestern Abend essen, bisher verstehen wir uns gut und haben schon ein paar Sachen zusammen gemacht." Nun gehe es für beide darum, "erst mal reinzukommen" - ganz unabhängig von der Nationalität.
Ich habe auch keine Angst, mal etwas grammatikalisch Holpriges in die Bahn zu werfen.
Denn auch auf Englisch möchte Müller kommunikativ vorangehen. "Ich kenne es schon aus München, mit vielen internationalen Spielern zu spielen, dementsprechend ist es für mich nicht ungewohnt." Das Lob, das er für sein Englisch bekommen habe, kann er allerdings nicht voll teilen. "Ich muss noch zu oft umschreiben, weil mir die Worte fehlen, die ich im Deutschen natürlich parat habe." Auf dem Platz sei der Wortschatz allerdings nicht so kompliziert. "Ich habe auch keine Angst, mal etwas grammatikalisch Holpriges in die Bahn zu werfen, solange da am Ende eine Botschaft ankommt, die so ausschaut, wie sie losgeschickt wurde. Da bleibe ich dran und hoffe, dass ich mich weiter verbessere. Aber es geht auch viel mit Körpersprache."

Thomas Müllers neuer Deutschland-Kollege: Sebastian Schonlau. IMAGO/Imagn Images
Verstehen will Müller in Vancouver nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur rund um den Verein. "Es war für mich schon beim FC Bayern wichtig, dass Spieler, die neu dazukommen, ein bisschen was von der Geschichte des Klubs verstehen. Für die Menschen, für die der Klub wichtig ist, musst du ein Gespür entwickeln: Welche Werte vertreten sie und was haben sie für eine Reise schon hinter sich?" Dafür sah sich Müller unter anderem eine Doku über die Meistermannschaft der Whitecaps aus dem Jahr 1979 an. "Es wurde noch in einem anderen Stadion gespielt, das Stadtbild sah ganz anders aus - und trotzdem war es für das 'Village' damals ganz wichtig, den Großen aus New York zu zeigen, wo der Hammer hängt."
Die Hoffnung auf "etwas Besonderes"
Heute ist Vancouver zwar kein "Village" mehr, sondern eine angesehene Weltstadt, doch seither wartet man bei den Whitecaps - mit Ausnahme des kanadischen Pokals - auf Titel. "Wir haben die Hoffnung und das Gefühl, dass wir etwas Besonderes schaffen können. Ich glaube, dass wir eine gute Truppe zusammen haben. Du brauchst natürlich immer ein bisschen Glück mit den Verletzungen, aber wenn wir in so einen kleinen Run kommen, dann denke ich, dass wir Vancouver elektrisieren können."

Thomas Müller will mit Vancouver etwas gewinnen. picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Zunächst geht es aber auch in den USA in die Länderspielpause. Für Einschätzungen über die DFB-Elf sei es derweil noch zu früh, "da der Weg noch so weit ist und die Mannschaft manchmal gar nichts mit der zu tun hat, die das erste WM-Spiel bestreitet. Da geht es viel um die Form, die im Sommer vorherrscht", erklärte Müller. Ein mögliches Comeback von Manuel Neuer, das Lothar Matthäus zuletzt angeregt hatte, würde der Ex-Münchner positiv sehen: "Ich habe meine ganze Karriere mit Manu verbracht und habe ihm mit Sicherheit auch den einen oder anderen Titel zu verdanken. Dass ich überzeugt bin, dass er, wenn er fit ist, eine Top-Wahl wäre, ist ja völlig klar." Ebenso klar sei allerdings: "Es ist die Verantwortung des Bundestrainers, wen er nominiert. Was die verschiedensten Experten dazu sagen, das muss und soll ihm völlig egal sein."
Deutschland-Abstecher für "ein paar Unterhosen"
Müller selbst wird die Pause jedenfalls nutzen, um noch mal nach Deutschland zurückzukehren. "Ich werde die Koffer für den längeren Aufenthalt nachjustieren, ein paar Unterhosen nachlegen und dann bin ich bereit für den Endspurt der Saison." Der startet für die Whitecaps in der Nacht auf den 14. September (3.30 Uhr) gegen Ost-Spitzenreiter Philadelphia Union. Sieben Ligaspiele hat der aktuelle Dritte der Western Conference noch vor der Brust, bevor es im Oktober in die entscheidenden Play-offs geht.
Dennis Zaremba