Virtual Reality in den 90ern: Der Aufstieg und Fall von Virtuality

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Die Virtual-Reality-Welle der frühen 1990er-Jahre wurde nicht von den großen Tech-Konzernen aus den USA, sondern von einem kleinen britischen Start-up angestoßen. Lange, bevor Virtual Reality in den Wohnzimmern Einzug hielt, war sie in Spielhallen zu finden – mit riesigen Geräten, dicken Kabeln und klobigen VR-Brillen. Verantwortlich dafür war "Virtuality".

Virtuality Inc. wurde 1987 von dem Informatiker und HCI-Forscher Dr. Jonathan D. Waldern im englischen Leicester gegründet, der zuvor an interaktiven 3D-Systemen und stereoskopischen Anzeigen geforscht hat. Schon ein Jahr nach der Gründung gewann das Unternehmen, das damals noch den Namen "W-Industries" trug, einen Innovationspreis der British Technology Group. Das gewonnene Preisgeld von 20.000 Pfund finanzierte die Entwicklung eines VR-Prototyps, der bald Investoren auf den Plan rief.

Schon 1990 präsentierte W-Industries auf der Fachmesse "Computer Graphics ’90" in London den ersten öffentlich zugänglichen VR-Automaten: die "Virtuality 1000SU". Der Automat bestand aus einer offenen Kapsel, in die man sich hineinstellen und einen riesigen VR-Helm – die sogenannte "Visette" – aufsetzen musste. Durch die polygonale 3D-Welt bewegten sich Spieler mit einem Joystick. Das dazugehörige Spiel, "Dactyl Nightmare", wurde später als Remake für Oculus Rift veröffentlicht und kann heute noch gespielt werden – sofern man das wirklich möchte.

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Während aktuelle Geräte wie die Meta Quest 3 ein Sichtfeld von 110 Grad, eine Bildrate von bis zu 120 Hz und eine Auflösung von 2.064 x 2.408 Pixeln bieten, lieferte Virtualitys Erstling gerade einmal 65 Grad Sichtfeld und eine Auflösung von 276 x 372 Pixeln bei etwa 20 Bildern pro Sekunde. Für damalige Verhältnisse war diese Technik allerdings revolutionär: Bewegungen des Kopfes wurden durch magnetisches Tracking in Echtzeit erfasst, der Ton kam aus vier Lautsprechern im Helm und ein eingebautes Mikrofon ermöglichte Sprachchats mit anderen Spielern. Die Rechenleistung stellte ein Amiga 3000 mit Dual-TMS-Grafikkarten zur Verfügung.

Noch im selben Jahr wurde das Unternehmen in "Virtuality Inc". umbenannt und kurz darauf begann der weltweite Vertrieb der Arcade-Geräte, die unter anderem in Freizeitparks, Einkaufszentren und auf Messen in den USA, Japan und Europa aufgestellt wurden. Auch Unternehmen wie Ford, IBM oder British Telecom investierten in Virtuality-Systeme. 1991 begann Virtuality mit der Entwicklung eines eigenen Datenhandschuhs namens "Space Glove", mit dem sich Hand- und Fingerbewegungen im Raum erfassen ließen. Später folgte der "Virtuality Force Feedback Glove", der taktiles Feedback mithilfe pneumatischer Aktuatoren ermöglichte.

1994 folgte mit der "Virtuality 2000CS"-Serie die nächste Generation der Automaten. Anstelle eines Amigas kam dieses Mal ein IBM-PC mit einem 33-MHz-Intel-486DX-Prozessor zum Einsatz. Für einen erheblichen Grafiksprung sorgte die selbst entwickelte Grafikkarte „Expality PIX 1000” mit zwei Motorola-88110-RISC-Prozessoren, 8 MB DRAM und 4 MB VRAM.

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Die VR-Brille "Visette 2" wurde kompakter und ihre Linsen konnten nun auf verschiedene Augenabstände eingestellt werden. Neben dem Komfort verbesserte Virtuality auch die Displays, die jetzt mit 800 x 600 Pixeln auf zwei 1,6-Zoll-LC-Displays auflösten. Trotz der besseren Ergonomie und der gesunkenen Hardwarekosten konnte Virtuality mit den neuen Geräten nicht an den anfänglichen Erfolg anknüpfen. Der Spielhallenmarkt hatte seinen Zenit bereits überschritten.

In Kooperation mit IBM entwickelte Virtuality Mitt der Neunziger die VR-Workstation "Project Elysium".

(Bild: Virtuality Inc. / IBM)

Parallel zur 2000er-Serie versuchte das Unternehmen, VR auch in anderen Bereichen zu etablieren. So entstand 1994 in Zusammenarbeit mit IBM "Project Elysium", eine VR-Workstation für architektonische Visualisierungen, medizinische Schulungen und Bildungsanwendungen. Das System nutzte dieselbe Technik wie die 2000CS-Automaten, war aber für professionelle Umgebungen ausgelegt. Kostenpunkt: bis zu 47.000 US-Dollar, was heute etwa 102.000 US-Dollar entspricht.

Auch den Konsumentenmarkt wollte Virtuality erschließen. Gemeinsam mit Atari, das bereits in den Achtzigerjahren zwei prägende VR-Entwickler hervorgebracht hatte, stellte das Unternehmen auf der CES 1995 eine VR-Brille für die Spielkonsole Atari Jaguar vor. Die schwarz-rote "Jaguar VR" ähnelte dem bisherigen Virtuality-Design, war aber deutlich kompakter. Kopfbewegungen sollten via Infrarot erfasst werden, zur Steuerung war neben dem Jaguar-Controller auch ein "Space Joystick" geplant. Dieser sollte ebenfalls getrackt werden, um Handbewegungen in Spielen umzusetzen.

Virtualitys VR-Brille für den Atari Jaguar schaffte es nie über den Prototyp-Status hinaus.

(Bild: Atari / Virtuality)

Zum Launch sollte es eine speziell entwickelte VR-Version des Spiels "Missile Command" geben. Auch eine Demoversion namens "Zone Hunter" soll bereits fertig gewesen sein. Zur Veröffentlichung kam es jedoch nie, denn das System war instabil: Die niedrige Auflösung und häufige Verbindungsabbrüche führten zu erheblicher Motion Sickness und spielerisch kaum brauchbaren Ergebnissen. Außerdem war die Leistung der Jaguar-Konsole nicht stark genug, was zu Performanceproblemen führte.

Während Virtuality versuchte, die Prototypen zu überarbeiten, geriet Atari in eine finanzielle Schieflage. Eine Fusion mit JT Storage sorgte schließlich für den Rückzug aus dem Konsolenmarkt, und das Projekt "Jaguar VR" wurde eingestellt.

Der gescheiterte Versuch, zusammen mit Atari auf dem Konsumentenmarkt Fuß zu fassen, kostete Virtuality sehr viel Geld. Ein weiteres Problem war, dass der Spielhallenmarkt Anfang der 1990er-Jahre zunehmend unter Druck geriet. Heimkonsolen wie das Super Nintendo und das Sega Mega Drive wurden immer leistungsfähiger und machten Spielhallen für die Zielgruppe zunehmend uninteressant. Virtuality versuchte zwar, den Markt mit neuen Innovationen am Leben zu erhalten, doch wirtschaftlich kam das Unternehmen nicht mehr auf die Beine.

1993 ging Virtuality an die Londoner Börse. Die Aktie verdoppelte sich am ersten Tag und das Unternehmen wurde auf 75 Millionen Pfund geschätzt. Doch nur vier Jahre später war Schluss: Nach dem gescheiterten Heimkonsolen-Experiment mit Atari und der stagnierenden Nachfrage im Arcade-Geschäft meldete Virtuality im Jahr 1997 schließlich Insolvenz an.

Weder das 1995 exklusiv für die Freizeitparkattraktion Sega VR-1 veröffentlichte Headset "Mega Visor Display" noch die 1996 viel zu spät veröffentlichte 3000er-Serie mit Intel-Pentium-Prozessor und Winchester-Replika mit Rückstoßfunktion konnten das Ruder noch herumreißen. Die verbliebenen Patente und Technologien wurden an andere Unternehmen verkauft.

Dr. Waldern selbst zog nach Kalifornien, gründete das Unternehmen Digilens und ist bis heute in der XR-Branche tätig. Die alten Virtuality-Systeme haben heute Kultstatus: In Museen und bei Sammlern werden sie restauriert und ausgestellt.

Rückblickend war Virtuality eines der ersten Unternehmen, das Virtual Reality einem breiten Publikum zugänglich machte – wenn auch nur für kurze Zeit. Das kleine Unternehmen entfachte den ersten großen VR-Hype auf dem Konsumentenmarkt, der eine ganze Reihe (gescheiterter) Projekte nach sich zog.

Die Vision war klar, doch der Markt war noch nicht bereit. Zu teuer, zu schwer, zu früh. Und doch gehören viele der Technologien, die Virtuality in den 1990er-Jahren einsetzte – Headtracking, stereoskopische Headsets, Multiplayer-VR und 3D-Audio – heute zum Standard moderner VR-Systeme.

(joe)

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