„Tatort“ aus Zürich: Was wär’ der Mensch ohne sein Haar?

vor 14 Stunden 1

Im Märchen ist der Aufstieg recht simpel: „Rapunzel hatte aber prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold, und wenn die Fee so rief, so band sie sie los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief hinunter und die Fee stieg daran hinauf.“

Im „Tatort“ aus Zürich mit dem Titel „Rapunzel“ ist der Aufstieg genregetreu mit Strapazen und dunklen Machenschaften verbunden – eine haarige Angelegenheit bleibt er allerdings. Die junge Vanessa ist tot. Auch sie musste ihr Haar lassen, bevor ihre nächtliche Flucht aus den Klauen eines anonymen Missetäters tödlich in der Krone eines Baumes endet. Heruntergelassene Haare helfen hier nicht mehr viel, man brauche „wohl einen Kran“, sagt die Staatsanwältin Wegenast (Rachel Braunschweig). Es geht um Geld, das nicht Vanessa gehört, ihr aber zustehe – das findet zumindest ihre Freundin und Lebensgefährtin Lynn Fischer (Elsa Langnäse), die ebenfalls in die Sache verwickelt scheint.

„Fair“ gehandeltes Menschenhaar

Die Kommissarinnen der Kantonspolizei Zürich, Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) und Tessa Ott (Carol Schuler), bekommen es mit einem entfremdeten Vater (Bruno Cathomas als Marco Tomasi) und einer so geheimnisvollen wie unerwünschten Ziehmutter (Stephanie Japp als Aurora Schneider) zu tun. Deren Berufungen sind Teil eines Geflechts aus Geschäften mit dem menschlichen Haupthaar. Der Vater der Toten ist ein stadtbekannter „Coiffeur“, die Perückenmacherin Aurora fertigt auf Wunsch Haarbilder zum Gedenken aus Haaren von Verstorbenen. Im Hintergrund scheffelt das Großunternehmen „Majestic Hair“ Geld mit Echthaar, das angeblich „fair“ gehandelt aus indischen Tempelopfergaben stammt.

Das menschliche Haar, dies macht dieser erfreulich eigentümliche wie klug aufgebaute „Tatort“ deutlich, ist vieldeutig und nicht selbstverständlich: Bald wächst, bald wuchert, bald schwindet es. Bald erscheint es – ungerechterweise vornehmlich bei Männern – an Stellen, die mit der Würde des Haupthaars nicht viel zu tun haben. „Haare machen Politik“, sagt der gelackte Echthaarverkäufer mit dem erheirateten Adelstitel. Haare geben Aufschluss über den Lebenswandel: Bei der Toten wird Ketamin in den Haaren nachgewiesen. „Haare sind der Sitz der Seele“, sagt ein kahlköpfiger Kunde der Perückenmacherin Aurora. Hexen wurden sie abgeschnitten, um ihre Macht zu brechen. Ehebrecherinnen wurden zur Strafe geschoren, manche trennen sich mit symbolisch abgeschnittenen Haaren von einer gescheiterten Beziehung. Was es bis heute für eine Frau bedeutet, ihr Haar zu verlieren, veranschaulicht „Rapunzel“ auf sehr direktem Wege.

Auf einer anderen Ebene flicht der „Tatort“ (Regie: Tobias Ineichen, Buch: Adrian Illien) Bilder und Motive aus seiner Märchenvorlage ein, ohne sie dem Zuschauer allzu arg aufs Auge zu drücken. Die Zauberin, der blinde Prinz, der Turm – all das findet sich in dieser Erzählung und wird durch die Kamera von Michael Saxer und den Schnitt Wolfgang Weigls stets nur soweit angedeutet, dass es der Zuschauer erkennt. Selbst das lebensspendende Wasser, von dem es in Zürich ja reichlich gibt, hat das Team um Ineichen nicht vergessen.

Zwar wirkt die märchenhafte Unwirklichkeit der Erzählung mitunter unfreiwillig komisch, wenn jemand im Internet surft, der Laptop aber unten rechts zeigt, dass es gerade keine Verbindung gibt; oder wenn ein anderer, aus knapp einem Meter Höhe fallengelassener Laptop so unrettbar filmreif entzweispringt, das die darauf gespeicherten Daten verloren scheinen. Man mag es dem „Tatort“ nachsehen. Seinen Reiz gewinnt dieser Krimi, der nach zwei Dritteln etwas ins Stocken gerät, durch seine spielerisch eingestreuten Hinweise auf Kommendes.

Der erzählerische Code des Märchens (aufscheinend in Dialogen und Bildern) entschlüsselt dem Zuschauer, der lange im Dunkeln tappt, das Geschehen – oder aber führt ihn elegant auf falsche Fährten. Dem Duo Ott und Grandjean, respektive Schuler und Zuercher sieht man derweil gern zu, wie sie sich mit alpenländischer Zurückgenommenheit, gepaart mit dem Charme zweier Weißhut-Westernheldinnen und der Unterstützung ihres schwer sympathischen Steigbügelhalters Noah Löwenherz (Aaron Arens) durch diesen verflochtenen Fall rätseln. Hut ab.

Der Tatort: Rapunzel läuft am Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

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