
Balanceakt
Foto: Sebastian Kahnert / dpa-Zentralbild / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
In Deutschland ist der Bildungserfolg von jungen Menschen nicht nur stark vom Elternhaus abhängig, sondern auch vom Wohnort: Das zeigt der »Teilhabeatlas Kinder und Jugendliche« , für den Forschende dreier Stiftungen Daten der 400 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland analysiert haben.
Zu den Daten zählen neben Kinderarmut und Schulabbruchquote auch die Betreuungssituation von Vorschulkindern, die allgemeine Lebenserwartung und die Erreichbarkeit von Bushaltestellen, Grundschulen und Kinderarztpraxen.
Bayern hat es besser
»Die regionalen Unterschiede sind groß«, schreiben die Verantwortlichen des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der Wüstenrot-Stiftung im Vorwort der Studie.
Das zeige sich etwa am Anteil der Schülerinnen und Schüler, die ohne einen Abschluss die Schule verlassen. Seit 2010 seien das jährlich in Deutschland rund 50.000. Aber während im äußersten Norden und in den ostdeutschen Bundesländern der Anteil der sogenannten Schulabbrecher laut den ausgewerteten Daten von 2022 vielerorts bei zehn bis 15 Prozent lag, verließen in weiten Teilen Bayerns deutlich weniger Jugendliche die Schule ohne Abschluss: Hier lag der Anteil 2022 in vielen Gegenden nur zwischen drei und sechs Prozent.
Negativ heraus stechen etwa Stendal in Sachsen-Anhalt mit über 15 Prozent, Emden in Niedersachsen mit etwas über 14 Prozent, Chemnitz in Sachsen mit fast 14 Prozent und Hof in Bayern mit knapp über 13 Prozent. Nur leicht niedriger fielen diese Werte in Herne im Ruhrgebiet und in Bremerhaven aus.
Auch im Kreis Dithmarschen an der Westküste Schleswig-Holsteins, Birkenfeld in Rheinland-Pfalz und in der brandenburgischen Uckermark sowie dem Landkreis Prignitz starteten über zwölf Prozent der Schulabgänger ohne Schulabschluss in den nächsten Lebensabschnitt, heißt es in der Studie.
Geballte Probleme
»Barrieren in den Bildungsverläufen junger Menschen kommen selten allein«, schreiben die Studienautoren. So sei der Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss vor allem dort hoch, wo auch die Kinderarmut und die Jugendarbeitslosigkeit stärker ausgeprägt sind als in anderen Regionen.
Besonders große regionale Unterschiede gibt es demnach bei der Kinderarmut. In Duisburg, Bremerhaven und Gelsenkirchen lebte 2022 mehr als jedes vierte Kind in einer Familie, die das vormalige Hartz IV bezog.
Insbesondere in den Großstädten des Ruhrgebiets, Schleswig-Holsteins und des nördlichen Niedersachsens treffen laut der Studie hohe Kinderarmut und Jugendarbeitslosigkeit und ein im Bundesvergleich niedriges Angebot an Ausbildungsplätzen häufig aufeinander.
Anders sei die Lage in Süddeutschland: In Biberach, Neu-Ulm und im Oberallgäu war beispielsweise nur jedes zwanzigste Kind von Armut betroffen. Im Süden gebe es sowohl auf dem Land als auch in der Stadt wenig Kinderarmut, die Jugendarbeitslosigkeit sei niedrig und junge Menschen profitierten von einem großen Ausbildungsplatzangebot.
Ein deutliches Stadt-Land-Gefälle gibt es bei der für Kinder und Jugendliche wichtigen Infrastruktur. »Das können Schulen und Kitas sein, aber auch Schwimmbäder und Sportvereine, Bibliotheken und Kinos oder überhaupt erst mal eine Bushaltestelle, die regelmäßig bedient wird«, schreiben die Studienautoren.
In abgelegenen Regionen seien viele Kinder und Jugendliche darauf angewiesen, dass ihre Eltern sie zum Sport oder zum Arzt fahren. In weiten Teilen Mecklenburg-Vorpommerns, im Norden Brandenburgs und im Osten Bayerns müssten Jung und Alt laut Studie häufig mehr als 40 Minuten zu Fuß gehen, bevor sie in den Bus oder in die Bahn steigen könnten.
Zocken ohne Breitband
Auch die Verfügbarkeit von schnellem Internet wurde bei der Infrastrukturanalyse berücksichtigt, da junge Menschen ihr soziales Leben weitgehend über den digitalen Raum organisieren.
Während es für die Kinder und Jugendlichen in 90 Prozent der Haushalte in den Städten selbstverständlich sei, mit mehr als 200 Megabit pro Sekunde im Internet zu surfen und zu zocken, sei das in den ländlichen Regionen nicht überall der Fall.
So hatte der Auswertung zufolge im ostfriesischen Wittmund und im Landkreis St. Wedel im Saarland 2023 nur jeder zweite Haushalt Zugang zu schnellem Internet. Auch im Norden und Osten Bayerns, in Teilen Sachsens und in Sachsen-Anhalt haben demnach nur vergleichsweise wenige Haushalte einen Breitbandanschluss mit 200 Megabit.
Anhand aller ausgewerteten Daten haben die Forschenden acht Cluster gebildet, die statistisch gesehen ähnliche Voraussetzungen für Teilhabechancen aufweisen. Auch wenn alle Daten herangezogen werden, zeigt sich noch ein deutliches Gefälle zwischen den Regionen.
Was Kinder und Jugendliche vereint, egal, ob sie in der Stadt oder auf dem Land wohnen, im Süden, Osten, Westen oder Norden der Republik, sei der Wunsch nach öffentlichen Räumen. Das geht aus zusätzlichen Gesprächen mit 222 jungen Menschen hervor, die das Forschungsteam in acht Städten beziehungsweise Kreisen geführt haben, die jeweils für einen Clustertyp stehen.
Vergeblich sei oft dieser Wunsch nach einem Raum, in dem sie sich mit Gleichaltrigen aufhalten und sich ausprobieren können, heißt es in der Studie. Besonders im Winter, wenn Treffpunkte draußen rar seien.
Und: Junge Menschen aus allen Regionen möchten sich den Gesprächen zufolge beteiligen. Sie hätten Ideen, wie sie ihre Umgebung besser gestalten können. Sie hätten jedoch häufig das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.