Sebastian Haffner: Platz 16 des SPIEGEL Buchpreises für die Erzählung »Abschied«

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Eine Nacht und ein Tag im Paris der Dreißigerjahre. Alles geht schnell, das Leben wartet nicht. Der Tod auch nicht. In Sebastian Haffners posthum veröffentlichter Erzählung spürt man den Sekundenzeiger ticken.

Wir vergeben erstmals den SPIEGEL Buchpreis: Eine renommierte Jury prämiert zwanzig belletristische Werke, die in diesem Jahr auf dem deutschen Markt erscheinen. Am 20. November 2025 wird das Gewinnerbuch gekürt.

Dieses Buch ist vieles, unter anderem ein Experiment mit der Zeit, die die wahre Protagonistin ist. Sie ist schwer zu fassen, immer wenn man glaubt, sie verstanden zu haben, verhält sie sich doch wieder anders. Sie geht mal schnell, mal langsam, sie springt, bleibt stehen. Sie taucht alles in ein strahlendes Licht und offenbart im nächsten Moment großes Grauen.

»Abschied« heißt die Geschichte, die vor mehr als 90 Jahren geschrieben wurde und heute erst zu lesen ist. Ein Zeittunnel verbindet also 1932 und 2025, und wer hindurchgeht, kann wahnsinnig viel Spaß haben, kann melancholisch vom Eiffelturm auf Paris schauen und unwohl erkennen, dass großes Unheil sich wohl irgendwie bemerkbar macht, subkutan, unter der Oberfläche einer Stadt und unter der Haut der Menschen.

Sebastian Haffner war Publizist der alten Bundesrepublik, 1999 gestorben mit 91 Jahren, sein berühmtestes Buch bislang »Geschichte eines Deutschen«. Nun erschien posthum »Abschied«. Wenn man das Buch so anschaut, erwartet man irgendwie einen Untertitel, so etwas wie »Geschichte eines ...« oder »Aus dem Leben von ...«, aber da ist nichts, da steht nur: Abschied. Ganz groß wirkt das, für so ein kleines Buch, und doch auch lakonisch.

Es ist nicht so, dass »Abschied« erst jetzt entdeckt wurde, aber die Erben befanden das Buch wohl für eher mittelmäßig, weshalb es einige Zeit dauerte, bis es nun verlegt wurde. Zum Glück. Schon auf der ersten Seite kann von Mittelmäßigkeit keine Rede sein, eher von Meisterschaft. Wie in einem Theaterstück werden direkt alle handelnden Personen eingeführt: Teddy, das love interest. Es folgen: »Fräulein Gault, Horrwitz, der Bayer natürlich, sogar Franz, dem ich eigentlich nichts getan hatte.« Alle diese Personen sind dem Erzähler »böse«, haben sich mit ihm verkracht. Gute 180 Seiten also, um herauszufinden, warum.

Der Erzähler empfängt sie alle, in seiner kleinen Kammer in einem Pariser Hotel, die Leute kommen und gehen, Auftritt, Abtritt, oft auch unmotiviert, einfach so. Und die erste Seite hält auch schon diese herrliche Sachlichkeit bereit, diesen ganz bestimmten Ton, der jede Zeitlichkeit vergisst und rein im Moment funktioniert: »Er nahm, ich auch, wir rauchten.«

Autor Haffner

Autor Haffner

Foto:

Oliver Pretzel & David Brandt; Alexandra Polina    / DER SPIEGEL

Die Rahmenhandlung: Der Erzähler hat noch eine Nacht und einen Tag in Paris, bevor er wieder in sein langweiliges Beamtenleben in Berlin verschwinden muss. Er will sie mit Teddy verbringen, seiner Angebeteten, seinem Mädchen, aber ständig kommt etwas dazwischen, manchmal auch Teddy. Sie ziehen durch die Stadt, staunen im Louvre und steigen hinab in die Métro. Am Ende fährt er. Au revoir.

Die Figuren wirken, als würden sie geschoben und gezogen gleichzeitig. Von hinten schiebt die Vergangenheit, von vorn zieht die Zukunft, beides schrecklich in dieser Zwischenkriegszeit, die natürlich damals noch keine war.

In der Ferne schimmert der kommende Krieg schon durch. Vom »Erbfeind« ist die Rede, vom »Zukunftskrieg«. Schnell geht es dann aber weiter in den Unterhaltungen, es muss noch ein Glas getrunken, noch eine »Gitane rouge« geraucht werden. Bis sich die Zeit dann wieder verlangsamt, die Zeiger zu stocken beginnen. Über die Uhr des Erzählers, die er sich ausgeliehen hat, heißt es: Ihr »einziger Fehler war, dass sie manchmal stehenblieb«.

Im Louvre erleben der Erzähler und Teddy so einen Stillstandsmoment. Sie gehen durch »das quartier der herrlichen zerbrochenen Leiber«. Da stehen »raue Athletenbeine und kraftvoll-leichte Torsos, und hier ein Arm und dort ein Stück Brust und Schulter, alles glatt und weiß und aus leuchtendem Marmor, und überall am Rande Bruch und Verwüstung und überall der nackte, schwarze, rostige Draht, der die Überbleibsel zusammenhielt.« Und dann: »Auf all den marmornen Resten lag weißes und nacktes Licht, und mir war auf einmal, als sei es der Hades, durch den wir schritten.«

Das Schöne und das Schreckliche, das Leichte und das Schwere, es wird hier verdichtet, in einer Erzählung, die noch im profansten eine physische Kraft entwickeln kann: »Ich fühlte ihre Stimme wieder auf meinem Trommelfell.« So geht es den Leserinnen und Lesern auch.

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