Nahostpolitik: Und immer droht der Absturz

vor 2 Tage 13

Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Montag, dem Jahrestag des Überfalls der Hamas-Terroristen auf Israel, die Haltung der Bundesregierung bekräftigt: Zum einen versicherte er Israel die Solidarität Deutschlands, ein Element, dass in den ersten Tagen und Wochen nach dem Angriff des 7. Oktober alles andere überwog und bis heute die unerschütterliche Konstante ist im Verhältnis zu Israel. „Wir fühlen mit euch das Entsetzen, den Schmerz, die Ungewissheit und die Trauer“, sagte der Kanzler. „Wir stehen an eurer Seite.“

Zugleich sagte er aber auch, dass ein Jahr Krieg unvorstellbares Leid über die Bevölkerung im Gazastreifen gebracht habe. Die Palästinenser sollten ihre Angelegenheiten in Eigenverantwortung regeln können, mahnte Scholz – ein Verweis auf die Zwei-Staaten-Lösung, die aus Sicht der Bundesregierung nach wie vor der einzige Weg ist, der zu einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Mit Blick auf die Eskalation in Libanon forderte er die Hisbollah und Iran auf, die Angriffe gegen Israel einzustellen und sprach sich für eine Waffenruhe aus – was wiederum auch ein Appell an Israel ist.

Die abwägende Berliner Haltung wird von vielen Seiten kritisiert

Die Bundesregierung versucht nicht erst seit dem 7. Oktober, eine vermittelnde Rolle im Nahen Osten einzunehmen – sie setzte sich auch in den Jahren zuvor etwa im sogenannten Kleeblattformat mit Frankreich, Ägypten und Jordanien für einen Ausgleich zwischen Israel und den Palästinensern ein, in einer Zeit, als in Washington das Thema auf der uaußenpolitischen Agenda unter „Sonstiges“ abgehandelt wurde.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat diesen Politik-Ansatz schon recht bald auf die Formel gebracht, man müsse das Leid der Menschen auf allen Seiten sehen: das Leid der Familien der von der Hamas ermordeten und verschleppten Israelis, das Leid der palästinensischen Familien im Gazastreifen, der von den israelischen Streitkräften in weiten Teilen zerstört wurde, oder jetzt der Zivilbevölkerung in Libanon.

Berlin bekräftigt das Selbstverteidigungsrecht Israels, gerade auch im Norden, wo die Hisbollah seit dem 8. Oktober 2023 jeden Tag mit Raketen angreift und mehr als 60 000 Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden sind. Längst ist die von den Revolutionsgarden in Iran kontrollierte, ausgerüstete und finanzierte Schiitenmiliz dazu übergegangen, systematisch israelische Ortschaften zu zerstören. Die Bundesregierung redet Israel aber auch ins Gewissen, das humanitäre Völkerrecht zu wahren bei seinen Militäroperationen und internationales Recht zu achten, etwa angesichts der Gewalt radikaler Siedler im Westjordanland.

Kritik an dieser abwägenden Haltung gibt es aus verschiedenen Richtungen: Angesichts der militärischen Überlegenheit Israels, von mehr als 40 000 Toten im Gazastreifen oder dem nun massiven Bombardement auf Ziele der Hisbollah in Libanon sei die Kritik an Israel viel zu zurückhaltend, argumentieren propalästinensische und arabische Stimmen. Nicht selten führen sie an, dass Deutschland Russlands Angriffen auf die zivile Infrastruktur der Ukraine wesentlich stärker entgegentrete – was gerne als Beleg für doppelte Standards ins Feld geführt wird.

Andererseits sehen proisraelische Stimmen in Enthaltungen zu israelkritischen Resolutionen in der UN-Generalversammlung oder der zunehmend offenen Kritik der Bundesregierung an der Kriegsführung Israels einen Bruch des viel zitierten Ausspruchs, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson sei. Aus dem Umfeld von Premier Benjamin Netanjahu wurden Details aus einem vertraulichen Gespräch mit Baerbock durchgestochen, in dem die Außenministerin Schilderungen des Regierungschefs zur humanitären Lage im Gazastreifen in Zweifel gezogen hatte.

Eine dritte Stoßrichtung der Kritik: Deutschland habe mit seiner abwägenden Haltung nichts erreicht. Die Bundesregierung finde in Israel kaum Gehör gefunden, zugleich verliere Deutschland in der arabischen Welt und darüber hinaus in muslimisch geprägten Staaten an Ansehen und Einfluss.

An scharfen Verurteilungen Israels mangelt es auch in Europa nicht. Allerdings ist es nicht so, dass sich Netanjahu von Anwürfen Spaniens oder zuletzt des französischen Präsidenten Emmanuel Macron beeindruckt zeigen würde – im Gegenteil. Die maßgeblich von Macron ersonnene Initiative für eine 21-tägige Waffenruhe im Konflikt zwischen Israel und Hisbollah ließ er ins Leere laufen. Empört rief der Élysée nun zum Waffenembargo auf.

In der Krisendiplomatie bemisst sich Fortschritt oft in Millimetern

Berlin wird sich dem wie auch anderen Boykottforderungen schon aus historischen Gründen nicht anschließen, aber auch, weil man sich damit Handlungsspielraum nehmen würde. Zugleich hat der Bundessicherheitsrat seit Ende vergangenen Jahres so gut wie keine Waffenlieferungen mehr genehmigt. Auch in der Bundesregierung ist der Frust groß, dass Premier Netanjahu sich wenig zugänglich für guten Rat zeigt. Allerdings ignoriert er auch Appelle seines mit Abstand wichtigsten Verbündeten, der Regierung von US-Präsident Joe Biden – die über ganz andere Druckmittel verfügt, diese aber nur in überschaubarem Rahmen einsetzt.

Fortschritt bemesse sich in der Krisendiplomatie oft in Millimetern, hat Baerbock gesagt. Im Nahen Osten hat Deutschland maßgeblich dazu beigetragen, die Not der Menschen im Gazastreifen zu lindern; Deutschland ist zweitgrößter Geber für die Palästinenser und Baerbock hat sich persönlich um logistische Fragen gekümmert, die eigentlich nicht zu den Zuständigkeiten einer Außenministerin gehören. Regierungen gemäßigter arabischer Staaten erkennen das an, selbst wenn sie, wie zuletzt Jordanien, Berlin kritisieren.

Noch immer liegt in dem von Baerbock mitbegründeten Format aus fünf westlichen und fünf arabischen Staaten die beste Hoffnung, etwas hin zu dauerhafte und tragfähigen Lösungen für einen Frieden in der Region zu entwickeln. An der angestrebten Normalisierung der Beziehungen mit Israel hält Saudi-Arabien ebenso fest, wie etwa die Vereinigten Arabischen Emirate, die diesen Schritt schon gegangen sind. Ob diese Initiative letztendlich ins Ziel führt, wird sich allerdings kaum vor der Präsidentenwahl in den USA entscheiden.

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