Nahostkonflikt: Es gibt nur einen Libanon

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Dieses Land musste hart kämpfen wie wenige. Aber es hat doch immer Freiräume erhalten – die nun auf dem Spiel stehen. Sieben Charakterzüge eines einzigartigen Staates

8. Oktober 2024, 17:42 Uhr

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 Der Libanon ist schlechter denn je darauf vorbereitet, die humanitären Folgen des Krieges abzufangen.
Dieses Hochhaus wurde schon im August 2020 von der Beiruter Hafenexplosion zerstört. Es zeigt: Der Libanon ist schlechter denn je darauf vorbereitet, die humanitären Folgen des Krieges abzufangen. © Maria Klenner/​Agentur Focus

Die Politikwissenschaftlerin Bente Scheller hat sieben Jahre in Beirut gelebt, wo sie das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitete. Seit 2019 ist sie am Hauptsitz der Stiftung in Berlin für Nahost und Nordafrika verantwortlich.

Klischees überlagern das Bild vom Libanon: Die einen trauern einem so nie dagewesenen "Paris des Nahen Ostens" nach, für andere ist es ein Hort terroristischer Milizen. Wer sich mit den komplexen Realitäten befasst, merkt vor allen eines: Es ist auch ein einzigartiger Ort in der Region, dessen Freiräume für kritisches Denken und künstlerischen Ausdruck mehr denn je gebraucht würden. All das steht derzeit allerdings auf dem Spiel.

Eine fünfstöckige Torte der Desaster, jede Schicht überzogen mit pastellfarbenem Zuckerguss, so zeichnet der libanesische Illustrator Bernard Hage die vergangenen fünf Jahre des libanesischen Niedergangs in einem seiner jüngsten Cartoons. Vom untersten Tortenboden – der Finanzkrise – geht es über Covid zur Hafenexplosion, gefolgt von der politischen Krise und einer "Massendepression" – der allgemeinen Hoffnungslosigkeit, weil sich für keine der Notlagen eine Lösung auch nur abzeichnet. 

Israels Krieg gegen die Hisbollah nun trifft ein Land, das schlechter denn je darauf vorbereitet ist, die humanitären Folgen des Krieges aufzufangen. 

Hage hat ihn in seinem Bild als die sprichwörtliche Kirsche auf dem Kuchen dekoriert, das letzte i-Tüpfelchen. Die verheerenden Luftangriffe der vergangenen zwei Wochen haben nahezu 2000 Menschen getötet und mehr als eine Million Menschen innerhalb des eigenen Landes vertrieben.

Der Libanon ist von der Fläche gesehen gerade einmal halb so groß wie Hessen, aber mit Krisen der Superlative konfrontiert. Die Wirtschaft befindet sich in einer Rezession, die weltweit als eine der schlimmsten seit 1850 gilt. Eine höhere Inflationsrate plagt derzeit nur Simbabwe und Venezuela. Die Währung, das libanesische Pfund, hat innerhalb weniger Jahre über 95 Prozent seines Wertes verloren.

Es ist ein einzigartiger Ort der Ambivalenz, dessen politische Pleiten denselben Grund haben wie die außerordentlichen Freiräume für Kunst und Gedanken in der ganzen Region. All das steht allerdings auf der Kippe. Es ist wichtig, das Land zu begreifen in diesem Schicksalsmoment; es lohnt sich zurückzugehen in seiner Geschichte und den Libanon in seinen Wesenszügen zu beschreiben. Es geht nicht um reine Desaster wie in der Torte des Zeichners dargestellt, sondern eher um Wesensmerkmale eines Landes, das mit Krisen und Kriegen umgehen musste, erstaunlich improvisierte, aber nie Halt gefunden hat. Eine Annäherung in sieben Charakterzügen.

Schwache Staatlichkeit

Die eigene schwache Staatlichkeit wurde dem Libanon immer wieder zum Verhängnis. Sie ermöglichte, dass die PLO und andere palästinensische Gruppen in den 1970er Jahren von hier aus Israel angreifen konnten. Nach deren Vertreibung etablierte sich die Hisbollah als Staat im Staat – zwar eine libanesische Miliz und Partei, aber Irans Führung in Treue ergeben. Die Feindschaft der Palästinenser wie der Hisbollah gegenüber Israel führte dazu, dass sowohl Israel als auch Syrien während des Bürgerkriegs im Libanon einmarschierten und ihre jeweiligen Interessensphären durch jahrzehntelange Besatzung und von ihnen finanzierte Milizen zementierten. Durch sie wurde Libanon zum Terrain, auf dem internationale und regionale Konflikte stellvertretend ausgetragen wurden.  

Das komplexe politische System, mit dem nach dem Krieg der Proporz zwischen den einzelnen Konfessionen gewährleistet werden sollte, hat Tücken. Zwar verhindert es die Alleinherrschaft einer Partei. Gleichzeitig aber können sich dadurch die verschiedenen politischen Akteure gegenseitig blockieren. So kommt es, dass auch zwei Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit kein Nachfolger für Präsident Michel Aoun im Amt ist. Libanesinnen und Libanesen, die dem System kritisch gegenüberstehen, scherzen gelegentlich, statt eines Diktators hätten sie 18 – für jede konfessionelle Gruppe einen.

Dass die Hisbollah nach dem Ende des Bürgerkriegs 1990 die einzige Miliz war, die ihre Waffen nicht abgegeben hat, machte sie innenpolitisch zu einem starken und gefürchteten Akteur. Niemand konnte sie damals zwingen, der Iran wollte es nicht. Aber um ihre Rolle zu erfassen, ist es wichtig zu verstehen, dass sie nicht bloß eine Miliz ist: Als bewaffnete Gruppe schüchtert sie ein und begeht politische Morde. Das tödliche Attentat auf den ehemaligen libanesischen Premierminister Rafik Hairi 2005 und eine Serie von Anschlägen auf Politiker, Journalistinnen und Journalisten, missliebige Ermittler, und zuletzt 2021 der Mord an ihrem schärfsten Kritiker, Lokman Slim – all das geht auf ihr Konto. Gleichzeitig ist sie als politische Partei in Parlament und Regierung vertreten; sie ist Teil der Wirtschaft und der Schattenwirtschaft mit weitverzweigten internationalen Netzwerken und bietet überdies soziale Leistungen wie Krankenversicherungen an, die für ihre Gefolgschaft umso wichtiger geworden sind, je näher der Staat einem Totalausfall kommt.

In Ermangelung staatlicher Ressourcen und internationaler Unterstützung ist im Wesentlichen sie es, die momentan Binnenflüchtlinge aus ihrer Klientel unterstützt – und damit an sich bindet.

Ungeahnte Freiräume

Dieses sich gegenseitige In-Schach-Halten der einzelnen Fraktionen im Libanon hat einen geeinten Widerstand immer wieder zerfallen lassen, bevor eine Protestbewegung die korrupte Elite hätten stürzen können. Sie hat den Staat zugrunde gehen lassen. Gleichzeitig aber haben dieses ewiges Patt und die mangelnde Durchsetzungskraft staatlicher Institutionen verhindert, dass eine Diktatur entstehen konnte. Die positive Kehrseite des Scheiterns ist die Freiheit, die im Libanon immer noch größer ist als woanders in der arabischen Welt. Auch wenn es ungeschriebene rote Linien gibt und selbst im Libanon die Räume für progressives, kritisches und queeres Engagement in den letzten Jahren enger geworden sind, ist es immer noch ein Land beachtlicher Presse- und Meinungsfreiheit, in dem die punktuellen Versuche staatlicher Einschüchterung beherzt zurückgewiesen werden.

Im vergangenen Jahr wurde die Satirikerin Shaden Fakih wegen eines Videos vors Militärgericht zitiert, weil sie während des Covid-Lockdowns aufgezeichnet hatte, wie sie die libanesische Armee um die Lieferung von Monatsbinden bat. "Als ich die Vorladung erhielt, habe ich als erstes ein Video gepostet: "Jungs, denkt ihr, ich habe Angst? Nein, Habibi, ihr flößt mir keine Furcht ein." Sie wurde wegen "Demütigung und Rufschädigung der libanesischen Armee" zu einer Geldstrafe verurteilt.

Der Comedian Nour Hajjar wurde letztes Jahr wegen eines ähnlichen Sachverhalts verhaftet. Er hatte gespottet, wenn er Essen bestelle und dem Pizzaboten die Tür öffne, salutiere er erst einmal. Damit spielte er darauf an, dass Armeeangehörige Zweitjobs annehmen, weil sie von ihrem Sold kaum mehr ihre Familie ernähren können. Nach seiner Verhaftung sammelten sich Aktivistinnen und Aktivisten, um dagegen zu protestieren. Nour Hajjar kam frei. "Satire hat eine wichtige soziale Rolle, und unsere Comedians sollten weitestgehenden rechtlichen Schutz genießen, insbesondere, wenn sie öffentliche und religiöse Autoritären oder Handlungen aufs Korn nehmen, in einem Land, das sich auch sonst durch Straflosigkeit auszeichnet", sagte damals Ghida Frangieh, Anwältin der Nichtregierungsorganisation Legal Agenda.

Die Organisation ist Teil der überaus lebendigen, streitbaren Zivilgesellschaft, die den politischen und gesellschaftlichen Diskurs im Libanon prägt. In eine ähnliche Richtung argumentiert Monika Borgmann, Dokumentarfilmerin, die der Organisation Umam und dem Mena Prison Forum vorsteht: Kunst sei eine Form des Widerstands im Libanon, und selbst wenn man um den Raum und die Freiheit kämpfen müsse – auch das mache den Libanon aus.

Leben ohne den Staat

In der libanesischen Gesellschaft sind die Erwartungen an den Staat gering, die Menschen haben sich mit seiner weitgehenden Abwesenheit abgefunden. Umso größer ist das Talent, für jedes Problem eine Lösung zu finden. Kaum war 2019 die Finanzkrise über den Libanon hereingebrochen, blühte das Geschäft mit Kryptowährungen; eine Goldgrube für diejenigen, die Orte ausfindig machten, an denen sie genügend Strom für das energieintensive Schürfen nach Kryptowährungen bekamen, und halbe Dörfer in Serverfarmen verwandelten.

Auch jede Lücke in der staatlichen Infrastruktur wird stets durch jemanden gefüllt. Als es kein Benzin mehr gab, kam sofort eine App auf den Markt, mit der man "Schlangensteher" buchen konnte, die für einen stunden-, tagelang in den endlosen Autoschlangen vor den Tankstellen anstanden. Die Krise war nicht behoben, aber ein bisschen umgangen. Alles ist erhältlich – vorausgesetzt, man hat Geld. Das ist hilfreich, birgt allerdings auch das Risiko, dass das, was als Behelfslösung beginnt, ein Eigenleben entwickelt und einer dauerhaften Lösung im Weg steht.

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