„Freischütz“ in Oldenburg: Ach, die bösen Damen vom Varieté!

vor 2 Tage 15

Friedrich Kinds Libretto für den „Freischütz“ Carl Maria von Webers ist besser als der Durchschnitt der Musiktheater-Texte seiner Zeit. Dass es dennoch immer wieder mit Spott belegt wird, liegt an der enormen Popularität der 1821 in Berlin uraufgeführten Oper im deutschsprachigen Raum, deren atmosphärische Dichte in der Schilderung von Verunsicherung und von psychischer wie lebenspraktischer Doppelgängerei gern ausschließlich dem Komponisten zugeschlagen wird. Friedrich Kind, dessen Text die Phantasie seines Partners überhaupt erst mobilisierte, litt schon zu Lebzeiten darunter, obwohl beispielsweise die humane Finallösung, mit der die Etablierung der Oper als nationalkultureller Reliquie überhaupt erst möglich wurde, eine gemeinsame Tat beider Autoren war.

Auch das Oldenburgische Staatstheater erhebt jetzt den Anspruch, in „Geschichten, die uns auf den ersten Blick sehr wenig betreffen“, durch seine Neuinszenierung „die Motivation der Handelnden sichtbarer zu machen und neue Akzente zu setzen“. Doch grundlegende „Freischütz“-Konfliktstellungen wie die Frage, ob und wieweit man sich gelegentliche Not-Schmutzeleien zum Zwecke beruflicher oder privater Glückserfüllung gestatten darf, oder die immer neu bestürzende Erkenntnis, wie nahe in kollektiven Gemütsbewegungen gefühlsseliges Groupietum und kalte Ächtung beieinanderliegen können, sind ja keineswegs von gestern und bedürfen insofern kaum mühevoller Aktualisierung oder illustrierender Untertitel wie hier „Ein Tanz mit dem Bösen“. Man muss nur das Stück so, wie es ist, ernst nehmen.

Die Mächte der Finsternis haben wenig Einschüchterndes

Joan Anton Rechi, der Oldenburger Regisseur, hatte bisher nur wenige Begegnungen mit dem deutschen Repertoire. Das könnte den Blick frei machen für unroutinierte Zugänge; hier brachte es nur eine Ansammlung international frei flottierender Manierismen hervor, beginnend mit der von sinnfrei wuselnder Pantomimik durchlöcherten Ouvertüre. Öfter rutschten Text und Aktion in Widersinnigkeiten auseinander, und zu selten gab es witzig-anrührende Einfälle wie die intime Solidarität zwischen Ännchen (Stephanie Hershaw, die anfangs gehemmt-defensiv und fast eingeschüchtert agierte, befreite sich später auch sängerisch zunehmend) und Agathe, die in der Verkörperung Elizabeth Llewellyns durch Innigkeit und sternhaft schöne Spitzentöne berührte; in tieferen Lagen stumpfte ihr Glanz manchmal ab.

Überhaupt kam der Gewinn des Abends aus der Musik, voran von Hendrik Vestmann mit dem Oldenburgischen Staatsorchester und dem solide agierenden Chor: Da wurde Weber nicht retrospektiv von Wagner her, sondern aus dem Geist der Spieloper begriffen mit einer Lockerheit, die aus einem dunklen Stamm dramatische wie lyrische Zweige mit einigen schönen Instrumentalsoli zu treiben vermochte. Im Vokalen gab es manchmal ein beträchtliches Gefälle zwischen hochgetriebenem Pathos und der Banalität der begleitenden Aktionen, am meisten beim Max von Johannes Maas, der seinen kernigen Tenor zu gewaltsam forcierte.

Seiner dennoch beeindruckenden Präsenz entsprach bei den Bässen Daniel Eggerts würdevoller Auftritt als Eremit, während Seungweon Lees Kaspar kaum einmal bedrohlich und schon gar nicht dämonisch wirkte. Ohnehin hatten die Mächte der Finsternis hier wenig Einschüchterndes: Die Wolfsschlucht-Szenerie verfolgten die Protagonisten aus dem Bühnenhintergrund wie von einem Kasperletheater herab, während vorn einige pailletten- und federngeschmückte Revue­girls böse Dinge zu tun vorgaben. Das aber hatte mit der nicht neuen, aber hier in besonders unglückseliger Weise exekutierten Grundidee zu tun, Samiel, den nihilistischen Negativpol der Handlung, aufzuwerten.

Eine Altlast?

So ließ ihn die Inszenierung als glattgelackt widerlichen, menschliche Schwächen zynisch ausbeutenden Katastrophen-Conférencier mit dem Gefolge ebenjener aufdringlichen Glitzer-Statisterie auftreten und inmitten einer von dieser Aura infizierten Dorfdisco-Ausstattung (Markus Meyer) ziemlich viel sing-reden: vielleicht ein synergetischer Vorgriff auf die nächste Oldenburger Musiktheater-Premiere, John Kanders „Cabaret“-Musical?

Jedenfalls wirkten die Sprechgesänge, obwohl von Martin Bermoser aasig fies zelebriert, dramaturgisch lediglich als Luftlöcher, zumal Elena Kats-Chernins flott hingetupfte, auswechselbare Klangpolster augenblicks verpufften, sobald wieder Weber selbst zu Wort kam. Die zugrunde lie­genden, auch andere Akteure einbezie­hen­den, von Susanne Felicitas Wolf aufgesetzten Botschaften waren durchweg steinerweichende Banalitäten der Art: „Ich setze die Regeln, ich setze das Ziel / ich lenke alles, wohin ich will.“ Oft geht es dabei nicht einmal um Handlungsantriebe, sondern – stets in kindertümelnder Reimerei wie bei schlechten Trickfilm-Songübersetzungen – um äußerliche Handlungsvehikel wie die segensreichen weißen Rosen oder fatalen Freikugeln (die in der Bühnenoptik folgerichtig eher Handgranatengröße haben).

Womöglich musste Oldenburgs neuer Intendant Georg Heckel diese erste Musik-Premiere seiner Amtszeit als Altlast übernehmen. Doch Besserung wäre möglich: Man könnte sich zum Beispiel nach den Rechten an Steffen Kopetzkys poetisch tiefgründigen Samiel-Monologen erkundigen, die 2001 in einer „Freischütz“-Aufnahme der Deutschen Harmonia Mundi dokumentiert wurden – wenn nicht für dieses, dann fürs nächste Mal.

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