Kinofilm „Der Buchspazierer“: Lass uns in diesen Menschen blättern

vor 1 Tag 7

Carl Kollhoff liebt Bücher. Bevor er sie in die Hand nimmt, haucht er kurz auf seine Finger, als könnten die Buchstaben bei falscher Temperatur Schaden nehmen. Und wenn er das Buch dann aufschlägt, atmet er genüsslich den Geruch von Papier und Druckerschwärze ein, manchmal auch etwas Staub. Lesen, Haptik und Verstehen gehören zusammen. Das haben nicht nur skandinavische Schulen verstanden, die ihre Unterrichtsmaterialien von Computer und Smartphone wieder zurück aufs gebundene Papier umstellen. Das Thema durchzieht auch den Film „Der Buchspazierer“, adaptiert von Ngo The Chau nach dem gleichnamigen Bestseller von Carsten Sebastian Henn.

Die titelgebende Hauptfigur hat Bücher zu ihrem Beruf gemacht. Nicht als Bibliothekar oder Wissenschaftler, Kollhoff verrichtet in einer kleinen Stadt Botendienste für die lokale Buchhandlung. Er bringt die Bücher zu ihren Menschen, wie eine Erzählstimme erklärt, deren Ursprung und Funktion sich am Ende des Films zeigen wird. Jeden Tag verpackt Kollhoff die Buchbestellungen liebevoll, lädt sie in seinen Tornister und spaziert zu den Adressen. Abends wählt er aus seiner eigenen umfangreichen Bibliothek ein Werk, mit dem er sich in einen Lesesessel verkriecht. Bücher sind ihm lieber als Menschen. Und er redet nicht viel, selbst wenn er die Bestellungen überreicht.

Seine Gegenüber nimmt er trotzdem aufmerksam wahr, gibt ihnen im Geist Spitznamen aus der Literatur, die auf ihre Situation passen. Eine unglücklich verheiratete junge Frau nennt er „Effi“, eine ehemalige Lehrerin mit bunten Strümpfen und Agoraphobie hat er bei sich „Frau Langstrumpf“ getauft und einen gewichthebenden Arbeiter „Herkules“. All das erzählt er der kleinen Schascha, die ihm eines Tages auf seiner Runde folgt und ihn von da an täglich nach der Schule begleitet. Das Kind wird sein Leben und die Leben aller anderen Lesenden auf den Kopf stellen.

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Sie beginnt, die Gewohnheiten der Einwohner zu hinterfragen, verteilt Bücher, die nicht bestellt wurden, aber literarische Antworten auf die jeweiligen Probleme liefern. Effi erhält statt ihrer Eskapismuskrimis eine Liebesgeschichte, die zeigt, dass Paare sich anders verhalten könnten. Frau Langstrumpfs Abenteuerlust wird mit Entdeckergeschichten geweckt, um sie wieder nach draußen zu locken. Und dem reichen, aber einsamen Erben „Mr. Darcy“ wird Schascha einfach mehrere Personen ins Haus schleppen, die ein Dach über dem Kopf brauchen.

Ngo The Chau, der bislang vor allem bei Fernsehproduktionen von „Tatort“ bis zur Serie „Bad Banks“ die Kamera führte, übernimmt diese Aufgabe auch in seinem Kinofilmregiedebüt. Die fiktive Kleinstadt, von der Erzählerin als „Dorf der Lesenden“ bezeichnet, fängt er im strahlendsten Licht ein, folgt Kollhoff mal aus der Vogelperspektive durch die Kopfsteinpflastergassen, nimmt ihn mal frontal in den Blick, sodass sich hinter dem Buchspazierer die Idylle als ­Panorama entfaltet.

Besetzungsglück Christoph Maria Herbst

Die satten Farben, die Erzählerstimme, die Idee der Rettung verlorener Seelen durch kindliche Hilfe – so ein Film könnte schnell in Kitsch abgleiten. Regisseur Ngo The Chau umschifft diese Klippen durch kluge Einfälle, setzt Brüche im fröhlichen Ton. Vor allem vertraut er seinen Darstellern. Yuna Bennett leuchtet als Schascha wie eine 200-Watt-Glühlampe. Ronald Zehrfeld gibt Schaschas Vater mit brummiger Fürsorge, die ob der Aufgabe, das Kind nach dem Tod der Mutter allein aufziehen zu müssen, manchmal über die Stränge schlägt. Das größte Glück der Besetzung aber ist Hauptdarsteller Christoph Maria Herbst.

 Schascha (Yuna Bennett) und Carl Kollhoff (Christoph Maria Herbst)Unterwegs zu den Lesenden: Schascha (Yuna Bennett) und Carl Kollhoff (Christoph Maria Herbst)Studiocanal

Der lässt seinen Carl Kollhoff langsam aus Misanthropie und verschrobener Schüchternheit erwachen, um sich den Ängsten und Wunden seiner Vergangenheit zu stellen. Herbst gelingt es, sowohl Humor in kleinste Szenen zu schmuggeln – einmal sieht man Kollhoff, der all seine Bücher verkaufen musste, des Abends im Telefonbuch blättern –, als auch das Drama auszuloten und die tiefe Trauer und Verletzlichkeit seiner Figur freizulegen.

Der Buchladen bekommt eine neue Filialleiterin, die sich sofort ans Optimieren macht – bei aller Kleinstadt-Idylle behält Chau besonders in diesem Detail die gegenwärtigen Gesellschaftsprobleme im Blick. Statt Literatur und Bildbänden stehen nun also Notizblöcke, Karten, sogar Regenschirme in den Auslagen. Irgendwann wird die Leiterin jegliche Druckerzeugnisse wegoptimiert haben und in einem sterilen Laden ohne Bücher sitzen. Kollhoff verbannt sie fürs Einpacken erst in die Abstellkammer und teilt ihm später mit, dass man seine Dienste nicht mehr benötige. Das sei alles nicht rentabel. Die Leute sollten entweder direkt in den Laden kommen oder gleich im Internet ordern. Als er seine letzte Runde macht, überholt ihn das Elektrogefährt eines Onlinelieferdienstes. Mit stoischer Miene nimmt Kollhoff die Schicksalsschläge hin. Herbst spielt das langsame Zerbrechen in kleinen Gesten, dimmt das Sprechen zum heiseren Flüstern, lässt Kollhoff durch die Straßen stolpern wie ein Aufziehmännchen während der letzten Umdrehung kurz vorm Zusammensacken.

Die Rettung bringen diesmal nicht Bücher, sondern Menschen. Schascha sammelt sie ein, knüpft Solidaritätsbande zwischen den Verlorenen, animiert zur gegenseitigen Hilfe. Getreu dem Motto: In Büchern findet man Vorbilder, aber was man gelesen hat, muss man dann auch aufs Leben anwenden können. Während allerorts unabhängige Buchhandlungen ums Überleben kämpfen, Traditionsverlage die Besitzer wechseln und Autoren mit KI-Unternehmen um Urheberrechte streiten, ist dieser Film eine erholsame Utopie.

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