In allen Gesichtern wirst du suchen

vor 5 Stunden 2

Damit alles sich ändert, um so zu bleiben, wie es ist, dürfen Abschiede nicht außer Mode kommen. Ein Tisch mit weißer Decke, eben noch ein gemeinsamer Abend, jetzt ein letztes Glas allein. Eben noch ein Kuss in den Nacken, ein Streichen über die Stirn, all die Tage, all die Stunden festgehalten in einer zarten Geste, in einem langen Blick – und dann: fort. Der Stuhl plötzlich leer. Wenn Menschen sich trennen, wenn sie Autotüren zuschlagen oder auf Bahnsteigen winken, dann fühlen sie plötzlich genau, was ihnen fehlt. Was sie eben noch für selbstverständlich gehalten haben, ist jetzt auf einmal zur ersehnten Ausnahme geworden. Seit eh und je der größte Schmerz jeder Bindung: Wenn du da bist, denke ich nicht daran, aber wenn du fort bist, weiß ich nicht, woran ich sonst denken soll.

Scheues Winken

Eine Nonne in einem Wiesbadener Kloster. Eines Nachts hat sie ein Neugeborenes an der Pforte gefunden und in ihre Obhut genommen. Der Zweite Weltkrieg ist gerade zu Ende gegangen, überall raucht es noch aus den Ruinen. Aber durch die spitzbogigen Fenster der Kapelle scheint die Sonne, und die Äste der alten Bäume schwanken im Wind. Die Nonne zieht das Mädchen auf, bis es eine junge Frau geworden ist. Mit dem Koffer in der Hand nimmt sie Abschied von ihrer Lebensretterin. Und sie, die Schwester, schaut ihr weinend nach, zögert kurz, ob sie ihr nicht doch hinterherstürzen soll, aber dann schafft ihre Hand doch nur ein kurzes, scheues Winken.

Am Ende dieser Geschichte geht es wieder um ein kleines Kind. Auf einem zugigen Bahnhof an der polnisch-ukrainischen Grenze sitzen Anfang 2022 ein schwuler Mann und eine schwarze Frau. Gerade hat der Krieg angefangen. Auf den Dächern heulen die Sirenen, in der Wartehalle des Bahnhofs brüllt ein kleines Kind. Ein ukrainischer Mann trägt ein Neugeborenes auf dem Arm. Es ist nicht von ihm, seine Frau hat es ausgetragen für den schwulen Mann. Sie hat ihren Körper zur Verfügung gestellt, um den unbändigen Kinderwunsch zweier Männer in Berlin zu erfüllen. Die Geburt ist gut verlaufen, mit dem Kind ist alles in Ordnung, die Agentur zeigt sich zufrieden. Aber womit sie nicht gerechnet hat, ist der Schmerz, der danach kommt. Als sie das Kind in die Arme ihres Mannes gelegt und beide zum Bahnhof gebracht hat. Da steht sie auf dem Bahnsteig und bricht zusammen. Dass ihr mit dem kleinen Wesen auch ein Stück ihres Herzens genommen würde, stand in keinem der vielen Paragraphen.

 Stephanie Eidt, Stefan Stern, Damir Avdic, Alina Vimbai StrählerWiedervereinigte Spielergesellschaft: Stephanie Eidt, Stefan Stern, Damir Avdic, Alina Vimbai StrählerGianmarco Bresadola

Abschiede. Preisgaben. Verlustsuche. Darum geht es in dem neuen, empfindsamen Erzählzyklus des kanadischen Theaterkünstlers Robert Lepage, der jetzt an der Berliner Schaubühne zu bewundern ist. Anhand von vier Kapiteln, die in unterschiedlichen Jahren an verschiedenen Orten spielen, zeigt ein Ensemble aus sieben Schauspielerinnen und Schauspielern den Zusammenhang von „Glaube, Geld, Krieg und Liebe“ (so der an Horváth erinnernde Titel). Tatsächlich sind es „Geschichten“, nicht aus dem Wiener Wald, sondern aus dem aus Krieg und Zerstörung auferstandenen, dem durch die Wiedervereinigung überraschten, dem vom Krieg in Afghanistan erstmals wieder geprüften und dem an der errungenen Freiheit moralisch zweifelnden Deutschland. Es sind Passagen einer zusammenhängenden Geschichte, die von dem klösterlichen Findelkind ausgeht und in Paris, Baden-Baden, Kundus, Berlin und Charkiw Station macht. Geschichten von schicksalhaften Redundanzen über die Zeiten hinweg.

Den Weg in die Welt

Die, die als Kind weggegeben wurde, gibt ihre Zwillinge ebenfalls fort, in eine Waisenstation weit weg von Paris, wo sie Karriere als Model macht. Eine Wahrsagerin hat ihr prophezeit: „Die Sehnsucht wird dich in allen Gesichtern nach deinen Kindern suchen lassen.“ Jahrzehnte später, auf einer Spendengala am Berliner Alexanderplatz, wird sie einen ihrer Söhne wiedertreffen. Wird der ödipalen Anweisung folgend das Bett mit ihm teilen und im Moment der schaurigen Anagnorisis jenes Chanson von Juliette Gréco im Ohr haben, das ihr damals im Café de ­Flore den Weg in die Welt gewiesen hat: „Quand je te reverrai / À Saint-Germain-des-Prés / Ce ne sera plus toi / Ce ne sera plus moi / Il n y a plus d’autrefoi.“

 Bastian Reiber, Damir Avdic, Alina Vimbai SträhleAuf dem Weg zum Baby: Bastian Reiber, Damir Avdic, Alina Vimbai SträhleGianmarco Bresadola

Das Gestern ist vergangen, alle Kraft der Vergangenheit aufgebraucht. Was bleibt, ist die Furcht davor, unter die Räder des Schicksals zu geraten. Lepage wählt dafür das paradigmatische Bild des Spielcasinos. In Baden-Baden Mitte der Neunziger verspielt eine Frau aus gut betuchtem Elternhaus ihr ganzes Geld beim Black Jack. Die aus Widerwillen gegen das familiäre Nazi-Erbe geborene Spielsucht treibt sie erst zum Pfandleiher, dann in die Gefängniszelle und schließlich in den therapeutischen Kreis anderer Abhängiger. Dort sagt sie einen für diesen Theaterabend prägenden Satz: „Für mich war das Verlieren genauso auf­regend wie das Gewinnen.“

Fluch der Familiengeschichte

Es ist genau diese Aufregung, die ­Lepage gefasst in Szene setzt. Eine Aufregung, die nichts Sentimentalisches an sich hat, sondern vom Staunen über die verschwundene Anziehungskraft des Gestern getragen ist. Seine Inszenierung ist der Versuch, das, was trotzdem immer gilt, zur Aufführung zu bringen: die Sehnsucht nach neuem Leben, die Sorge um vergehende Liebe, der Fluch der Familiengeschichte. Nicht die Dialoge oder der Plot sind dabei das Bedeutende – mitunter klingen sie sogar ein wenig aufgesetzt –, sondern die Atmosphäre, das leichte Spiel mit Illusion und Wirklichkeit, mit Licht und Dunkel, mit Zeit, die durch Kleider und Körper geht.

Ein Stationendrama ohne Angst vor einem bisschen Kolorit. Es ist, als säße man an diesem Theaterabend am beschlagenen Fenster eines Eisenbahnabteils und führe langsam an Haltestellen der deutschen Geschichte vorbei. Dass für den Kanadier dazu inzwischen auch die Erzählung eines Bundeswehrveteranen vom Schrecken des Karfreitagsgefechtes zählt, darf ruhig als kleine erinnerungspolitische Mahnung an die friedensbrillenblinde deutsche Gesellschaft verstanden werden. Aber das Politische tritt bei Lepage immer nur im Schatten des Poetischen auf – auch und gerade beim letzten Kapitel, das die moralisch streitbaren Zusammenhänge von Leihmutterschaft behandelt. Es geht Lepage auch dabei nicht um Positionierung, sondern um das stille Dazwischen des Menschen. Er, der ein Meister der Fügungen im technischen wie im emotionalen Sinne ist, schenkt Berlin eine Erinnerung daran, was Theater bewirken kann, wenn man es ernst mit ihm meint: den Glauben an die Liebe und die Hoffnung auf ein Wiedersehen.

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