Zum Tod der Malerin und Schriftstellerin Anita Albus

vor 20 Stunden 3

Heute wäre Anita Albus zweiundachtzig Jahre alt geworden, aber bevor ich ihr gratulieren konnte, erreichte mich die Nachricht, dass sie vor drei Tagen gestorben ist. Die Erinnerung geht zurück an die Begegnungen mit der Malerin und Schriftstellerin – und mit ihrer Kunst. Und an die Orte, wo sie stattfanden: ihre unglaubliche Wohnung mitten in München und das noch unglaublichere Schloss am nördlichen Rand des Burgunds, das sie bis vor ein paar Jahren bewohnte und in dessen Park sie jene Blumen kultivierte, die sie für ihre Florilegien malte, ausgeführt in selbst angemischten Farben meist auf Pergament. Das waren Pflanzenbilder, wie man sie seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. Für ihre Tierdarstellungen galt das gleiche.

In ihren Büchern verfolgte sie dasselbe Interesse: das unbeschreiblich Reiche der Schöpfung beschreibbar machen. „Die Literatur kann es sich nicht leisten, so unglaubwürdig wie das Leben zu sein.“ Dieser Satz aus Anita Albus’ Roman „Farfallone“ erklärt, warum seine Autorin nicht zu einer Schriftstellerin geworden ist, wie dieses Debüt aus dem Jahr 1989 noch vermuten ließ. Es gab ein künstlerisches Leben von Anita Albus vor „Farfallone“, und es gibt eines danach. Beide sind nur bedingt in die Kategorie „Literatur“ zu fassen, zumindest wenn man darunter fiktionale Prosa versteht.

Bei Anita Albus war nichts fiktiv, auch nicht dieser Roman, der ihr einziger bleiben sollte. Als „Farfallone“ erschient, wurde er rasch als Schlüsselbuch über die intellektuelle Münchner Gesellschaft erkannt, über deren Liebesleichtigkeit und -leichtfertigkeit. Im Mittelpunkt steht eine Entomologin, die sich mit der Mimikry der Insekten beschäftigt hat, jung gestorben ist und deren Affäre mit einem prominenten Architekten aus der hinterlassenen Korrespondenz mit einem befreundeten Astrophysiker rekonstruiert wird, die dieser seiner jungen Frau zu lesen gibt. Wir haben also einen klassischen Briefroman mit romantischer Erzählerfigur, doch es fiele nicht schwer, die Pseudonyme der realen Vorbilder zu lüften, und so ist es 1989 auch geschehen. Anita Albus machte aus ihrem Leben Literatur, und es gab nach ihren eigenen Aussagen zwei existenzielle Gründe dafür: die Notwendigkeit, das eigene Leben nach vorherigen eigenen Enttäuschungen in Liebesdingen zu retten, und auch ihre eigentliche Kunst, die Malerei.

Wie Claude Lévi-Strauss sie zur Autorin machte

Die allerdings wurde nicht durch unerwiderte Leidenschaft bedroht, sondern gerade durch das Gegenteil. Anita Albus sah sich in den Achtzigerjahren mit der Begeisterung eines Mannes für ihre Malerei konfrontiert, den sie aufs Tiefste bewunderte: des französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss. Nach Erscheinen ihres Buchs „Eia Popeia et cetera“ im Jahr 1978, das ihr erstes eigenes insofern war, als dass sie die darin enthaltenen alten Wiegenlieder selbst ausgewählt, kommentiert, teilweise übersetzt und vor allem durch sieben Trompe-l’oeil-Gemälde illustriert hatte, sandte sie es an Lévi-Strauss, weil sie dessen Ausführungen zur Malerei bewunderte. Mit der Bewunderung aber, die nun Lévi-Strauss für ihr Werk entwickelte (und die sich darin zeigte, dass er als Eröffnungsredner von Albus’ erster Ausstellung 1980 nach München kam, zum einzigen Deutschlandbesuch seines Lebens), und seiner Freundschaft zu ihr konnte die Malerin nur auf die Weise umgehen, dass sie sich zur Schriftstellerin wandelte, weil sie sonst diesem Lob nicht hätte standhalten können.

 Anita Albus malte ihre „Waldrappe vor Weltlandschaft“ mit einem Hintergrund in der Manier des von ihr bewunderten Patinir. Ihre malerisches Werk wird heute von der Kunsthalle Kiel bewahrt.Liebe zu den Altmeistern: Anita Albus malte ihre „Waldrappe vor Weltlandschaft“ mit einem Hintergrund in der Manier des von ihr bewunderten Patinir. Ihre malerisches Werk wird heute von der Kunsthalle Kiel bewahrt.Anita Albus

Ein Movens des künstlerischen Schaffens von Anita Albus war Emanzipation. Natürlich auch die der Frauen, was sich schon daran zeigte, dass ihre erste Publikation überhaupt ein Beitrag zu dem von Frank Böckelmann 1972 herausgegebenen Sammelband „Maskulin – Feminin“ war, der den Titel „Neue psychoanalytische Theorien der weiblichen Sexualität“ trug. Diesem Bestreben entsprach aber noch mehr die Etablierung als freie Künstlerin, nachdem die 1942 geborene Münchnerin als an der Essener Folkwang-Schule ausgebildete Grafikerin zunächst dieses Metier nicht mehr ausübte, nachdem sie sich 1964 verheiratet hatte und im Jahr darauf ihre Tochter geboren wurde. Mit der Wahl einer Malerei, die sich bewusst von allem Zeitgenössischen löste und ihre Vorbilder und Techniken wieder im Gegenständlichen einer Epoche fand, „in der die Wissenschaft als Kunst und die Kunst als Wissenschaft galt“, wie Albus es in in ihrem besten Buch, „Die Kunst der Künste“ (1997), formulierte, drang sie in gleich zwei Disziplinen vor, die in der Vergangenheit Frauen nur im Ausnahmefall ein Betätigungsfeld geboten hatten: eben die Malerei und die Naturwissenschaft.

Die Geburt ihrer Werke aus dem Geist des Wunderbaren

„Die Kunst der Künste“ liest sich wie ein Abenteuerbuch. Zugleich erfüllt es in der Sorgfalt, mit der das zugrunde liegende Material ausgebreitet wird, höchste kunstgeschichtliche und naturwissenschaftliche Ansprüche. Wie es schon in jenem Buch der Fall war, das im Nachhinein als Muster der späteren Arbeiten von Anita Albus gelten muss, in denen sie jeweils ihre doppelte Virtuosität als Malerin und Schriftstellerin nutzte: 1987 erschien „Das botanische Schauspiel“, Frucht ihrer zuvor drei Sommer umfassenden Tätigkeit als Gärtnerin im erwähnten Park des französischen Landsitzes. Im Moment ihrer Blüte wurden die dabei angepflanzten Blumen für Anita Albus zu Modellen, die sie zeichnete – in jener akribischen Genauigkeit, die große Stilllebenmaler wie etwa der von ihr bewunderte Georg Flegel oder die Niederländer Johannes Goedaert und Otto Marseus van Schrieck (beide werden in der „Kunst der Künste“ ausgiebig vorgestellt) sowie die Illustratoren der prächtigen Pflanzenbücher von Linné, L’Héritier de Brutelle, Salisbury oder Sprengel (sie alle sind Protagonisten in Albus’ 2002 erschienener Studie „Paradies und Paradox“, die sich der Geburt der Wissenschaft aus dem Geist des Wunderbaren widmet) etabliert hatten.

Doch zu den Bildern von Anita Albus trat ein Text, der die Geschichten dieser Blumen erzählte: wie wir sie durch die Leistungen der Forscher früherer Jahrhunderte kennengelernt haben und wie Anita Albus sie nunmehr beim Versuch, sie im eigenen Garten heimisch zu machen, kennengelernt hatte. „Entsprechungen zwischen den Menschen und den mit ihren Namen verbundenen Gewächsen sind, wie die Wahl meiner vierundzwanzig Protagonisten, aus Neigungen hervorgegangen, die sich nicht begründen lassen.“ Das war eine Stellungnahme gegen das moderne Verständnis einer notwendig objektiven Wissenschaft und ein Plädoyer für jene Freiheit der eigenen Anschauung, die Voraussetzung für Literatur ist.

Botanische und zoologische Romanzen

Und so war Anita Albus eben doch eine Schriftstellerin, nur eben eine, die sich ihre Themen auf Feldern sucht, die üblicherweise nicht auf literarische Weise bestellt werden. In „Das botanische Schauspiel“ charakterisierte sie 1987 Linné auf eine Weise, die zum spöttischen Spiegelbild ihrer selbst zu jener Zeit taugte: „Das Leben Linnés war beherrscht von ‚botanischen Romanzen‘.“

 Anita Albus, „Isabellafalter“, gemalt 2012Naturalismus auf Pergament: Anita Albus, „Isabellafalter“, gemalt 2012© Anita Albus

In ihrer großen Studie „Von seltenen Vögeln“ (2005) entfaltete sie ein weiteres Mal einen Erzählkosmos, der aus Naturbeobachtung und intensivem Studium ornithologischer Fachliteratur gewonnen war, Vögel jedoch in einer Weise schilderte, die kein Verwundern seitens Anita Albus über die bisweilen aus menschlicher Sicht bizarr erscheinenden Lebensumstände und Verhaltensweisen erkennen lässt, sondern grenzenlose Bewunderung. Albus liebte die Vögel nicht weniger als Blumen und Schmetterlinge – als Ganzes. Als Art liebte sie Menschen nicht. Die Kühle und Präzision ihres Stils hatte deshalb in ihrer fiktionalen Prosa jene charakteristische Grausamkeit eines Ontomologen, der das Schöne töten muss, um es zu erforschen und zu bewahren, während aus ihrer Wissenschaftsprosa tiefe Zuneigung sprach.

Anita Albus war eine tiefgläubige Frau, Ihr offenes Eintreten für den durchs Zweite Vaticanum abgeschafften lateinischen katholischen Messritus hat sie in den Augen vieler Vertreter einer säkularen Wissenschaft (bezeichnenderweise vor allem solcher aus der Literatur-, viel weniger dagegen jener aus der Naturwissenschaft) diskreditiert. Dass ein Verständnis des Denkens früherer Wissenschaftler oder auch eines von ihr so bewunderten Schriftstellers wie Marcel Proust, dem sie 2011 die meisterliche Studie „Im Licht der Finsternis“ widmete, unmöglich ist, ohne die Ursprünge von deren Überzeugungen – und dazu gehören religiöse Prägungen – zu berücksichtigen, blieb dabei unbeachtet.

Das Proust-Buch ist viel gerühmt worden für seinen Reichtum an neuen Entdeckungen zu Proust. Das betrifft nicht nur die Aufdeckung ganzer sich von den frühesten Anklängen des Themas der „Recherche“ bis zum fertigen Buch durchziehender Motivketten aus Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die Genauigkeit, mit der Anita Albus im Zuge ihrer Beschäftigung mit Proust die deutsche Übersetzung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ geprüft und darin etliche Mängel aufgedeckt hatte. Sie hatte selbst aus dem Französischen übersetzt, ihre umfangreichste diesbezügliche Arbeit ist die 1989 in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ unter dem Titel „Blitzlichter“ erschienene – und gerade bei Galiani wieder neu aufgelegte – Auswahl aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt, die auch für Proust bei allen stilistischen Vorbehalten eine wichtige Inspiration gewesen sind. Sämtliche Proust-Zitate aus „Im Licht der Finsternis“ hatte Albus deshalb eigens neu übertragen, und sie konnte daran zeigen, dass bestimmte Metaphernfelder in den alten deutschen Fassungen nicht erkannt worden waren. Dass auch die französische Literaturwissenschaft den Einfluss etwa der naturkundlichen Schriften von Henri Fabre auf Proust nicht erkannt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Ihr letztes Buch galt den Affen

Kunst war Gottesdienst für Anita Albus, und das ist etwas anderes als Religion, es ist Besinnung auf das, was uns als Menschen entzogen bleibt, dem wir aber nachstreben. In einem von ihr übersetzten Text aus dem Jahr 1924 über die Stickereien von Marie Monnier findet Paul Valéry dafür diese Worte: „Vielleicht ist das, was wir Vollkommenheit in der Kunst nennen, nichts anderes als das Gefühl, in einem menschlichen Werk jene Sicherheit der Ausführung, jene Notwendigkeit inneren Ursprungs und jene gegenseitige unlösliche Verbundenheit zwischen Gestalt und Stoff ersehnt und gefunden zu haben, welche uns die geringste Muschel vor Augen führt.“ Genau so wirkt die Lektüre der Bücher von Anita Albus.

Ihr letztes wird nun die jahrelang vorbereitete und 2022 endlich erschienene Affenstudie sein („Affentheater“ betitelt, erschienen bei S. Fischer). Darin hatte sie nur noch wenige eigene Bilder aufgenommen, weil die Arbeit an ihren im Stil der niederländischen Feinmalerei des Goldenen Zeitalters ausgeführten Gemälden die mittlerweile schwindenden Kräfte der Künstlerin überstieg. Die Nachricht ihres Todes ist dennoch verstörend. Wie kann man sich eine Welt ohne Anita Albus vorstellen, ihre akribischste Chronistin in Wort und Bild?

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