Szene des Spiels: Sofia Cantore hob den Blick. Die reguläre Spielzeit war fast abgelaufen, die italienische Offensivspielerin hatte noch einmal Platz zum Flanken auf dem linken Flügel. Ihre Hereingabe flog über alle norwegische Abwehrspielerinnen hinweg und fand den Kopf von Kapitänin Cristiana Girelli, die den Ball wuchtig unter die Latte setzte. Der Sieg! Italien steht erstmals seit 1997 wieder im Halbfinale einer Europameisterschaft.
Deine Hymne, meine Hymne: Italien gegen Norwegen, das ist auch ein eklatanter Unterschied im hymnischen Angang. Die Italienerinnen sangen sich (»Fratelli d’Italia«!) voller Inbrunst die Halsschlagadern nach außen, während die Skandinavierinnen es bei »Ja, vi elsker dette landet« ruhig angehen ließen.
Erste Hälfte: Das erste von vier Viertelfinals war auf dem Papier das ausgeglichenste. Bereits in der Qualifikation waren beide Teams aufeinandergetroffen und hatten sich zweimal remis getrennt, Norwegen musste als Dritter der Gruppe den Umweg über die Playoffs gehen, Italien wurde noch vor den Niederlanden Erster. Und auch beim Viertelfinalduell in Genf begannen die Italienerinnen nicht wie ein Außenseiter. Die Bayern-Spielerin Arianna Caruso, einzige Legionärin im Kader, verfehlte das Tor der Norwegerinnen in der 8. Minute nur um Zentimeter. Italien dominierte und verpasste per Kopf durch Cristina Girelli die Führung (19. Minute). Kurz darauf scheiterte Emma Severini aus halblinker Position an Norwegens Torfrau Cecilie Fiskerstrand (21.). Norwegen kam durch Hegerberg zu einer hervorragenden Gelegenheit, allerdings aus abseitsverdächtiger Position (37.). Kurz vor der Halbzeit hätte Norwegens Signe Gaupset aus mehr als 40 Metern fast ins verwaiste italienische Tor getroffen (45.).
Wirbel um die Größte: Hegerberg ist eines der bekanntesten Gesichter des Weltfußballs. Die Norwegerin gewann 2018 als erste Frau den Ballon d’Or, sie ist Rekordtorschützin der Champions League, die sie sechsmal gewann. Eine Ikone auf und als Frauenrechtlerin auch neben dem Platz. Doch bei diesem Turnier geriet das Denkmal der 30-Jährigen ins Wanken, wie SPIEGEL-Redakteur Jan Göbel vor Ort in der Schweiz zu berichten weiß. Ist sie noch gut genug? Gehört sie überhaupt noch in die Startelf? Im ZDF-Studio war man angesichts dieser Diskussion empört, wie man bei diesem Turnier bei allen Debatten irritiert scheint, die zu den kritischen Üblichkeiten einer solchen Veranstaltung gehören. Trainerin Gemma Grainger zeigte sich unbeeindruckt und ließ ihre Kapitänin von Beginn an auflaufen.
Zweite Hälfte: Passen oder schießen? Cantore hatte beide Optionen, als sie in der 50. Minute halbrechts im Strafraum auftauchte. Die Offensivspielerin von Washington Spirit entschied sich für eine scharfe Hereingabe an den Fünfmeterraum, wo Girelli den Ball mit der Fußspitze im Tor unterbrachte. Zehn Minuten später wurde Hegerberg im italienischen Strafraum zu Fall gebracht. Obwohl die Norwegerin dabei deutlich im Abseits stand, entschied Schiedsrichterin Stéphanie Frappart auf Strafstoß. Hegerberg lief an – und schoss den Ball deutlich rechts vorbei. Wie schon im Eröffnungsspiel gegen die Schweiz, als sie links daneben schoss. Sechs Minuten später stand sie erneut im Mittelpunkt. Italiens Torhüterin Laura Giuliani zögerte beim Rauslaufen und die norwegische Angreiferin traf zum Ausgleich (66.). Als alles auf eine Verlängerung hindeutete, traf Girelli zum 2:1 für Italien.
Die gute, alte Zeit: Olympiasiegerinnen, Weltmeisterinnen, zweimal Europameisterinnen – die Historie der Norwegerinnen ist eine beeindruckende. Allerdings: Der letzte Titel ist 25 Jahre her, letztmals stand man 2013 im EM-Finale. Bereits damals dabei: Hegerberg, Caroline Graham Hansen und Maren Mejlde. Die Zeit für einen großen Titel scheint für die großen drei Spielerinnen der Auswahl abzulaufen.
I Minimalisti: Ein Sieg, gerade einmal drei Tore – diese übersichtliche Ausbeute genügte den Italienerinnen in der Gruppenphase fürs Weiterkommen. Für italienische Fußballer und Fußballerinnen kein Grund zum Tiefstapeln: Das Team wolle »bis zum Schluss dabei sein«, hatte Trainer Andrea Soncin gesagt, denn »wir haben gezeigt, dass die Lücke zu den Topnationen kleiner geworden ist.« Kommende Woche dürfen sie dies erneut unter Beweis stellen.