Fußball-EM 2025: Der Schock um Giulia Gwinn

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Gwinns Verletzung beim deutschen EM-Startsieg Ein unbezahlbarer Preis

Deutschland startet mit einem Sieg in die EM, doch wirklich freuen kann sich darüber niemand. Es überwiegt die Sorge um Giulia Gwinn, der die dritte schwere Knieverletzung ihrer Karriere droht. Kann man sie ersetzen?

Aus St. Gallen berichtet Jan Göbel

05.07.2025, 08.40 Uhr

 »Es tut mir unfassbar leid für sie«

Giulia Gwinn: »Es tut mir unfassbar leid für sie«

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Beautiful Sports / Wunderl / IMAGO

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Gerade war der deutsche Auftaktsieg bei der Fußball-EM abgepfiffen, da versuchte Laura Freigang, die Fans zu beruhigen. Sie gestikulierte in Richtung der DFB-Anhänger auf den Tribünen und bat sie, auf ihren Plätzen zu bleiben, das Team werde gleich wiederkommen, so musste man ihre Handzeichen deuten.

Dann verschwanden Freigang und alle anderen deutschen Spielerinnen sowie Bundestrainer Christian Wück in den Innenraum des Stadions von St. Gallen. Es sah so eilig aus, als wären sie auf der Flucht, als hätten sie gerade zweistellig verloren und müssten das Land verlassen.

Doch der Grund war ein anderer, ein tragischer.

Als der deutsche 2:0-Erfolg gegen Polen abgepfiffen wurde, saß Giulia Gwinn noch in den Katakomben des Stadions. Zu ihr rannte das gesamte Team, sie alle wollten sie direkt in den Arm nehmen. »Giulia ist immer für uns da«, sagte die deutsche Spielmacherin Linda Dallmann hinterher: »Es tut mir unfassbar leid für sie.«

Der Satz war so treffend, denn die verhängnisvolle Szene in der 36. Minute, durch die Gwinn nun die restliche EM verpassen könnte, war ein Dienst an der Mannschaft.

Der Moment, als klar wird, dass es für Gwinn nicht weitergeht

Der Moment, als klar wird, dass es für Gwinn nicht weitergeht

Foto: Stephane Mahe / REUTERS

Die Kapitänin hatte sich mit einer Grätsche vor die polnische Superstürmerin Ewa Pajor geworfen und das deutsche Team damit vor dem möglichen 0:1 bewahrt. »Sie hat uns das Gegentor verhindert«, sagte Bundestrainer Wück, der sehr betroffen wirkte.

Gwinn blieb unmittelbar nach der Szene am Boden liegen, fasste sich immer wieder ans Knie und hielt sich die Hand vor das Gesicht. Im Stadion wurde es ganz still. Es schien, als wüssten alle, dass Gwinn in ihrer noch immer jungen Karriere bereits zwei Kreuzbandrisse erlitten hatte: im Februar 2020 das erste Mal am rechten und im Oktober 2022 das zweite Mal am linken Knie.

»Giulia Gwinn!«-Rufe gingen durch die Arena.

Tatsächlich raffte sich Gwinn noch einmal auf. Wer schon einmal einen Kreuzbandriss erlitten hat, weiß womöglich um den Schock, aber auch um das Adrenalin, das durch den Körper schießt und wie ein hoch dosiertes Schmerzmittel wirken kann.

Doch kurz nachdem die Teamärzte abgerückt waren, ging Gwinn erneut zu Boden, ihr fehlte offenbar die Stabilität im betroffenen linken Bein. Sie brach nun endgültig in Tränen aus, musste vom Feld begleitet und ausgewechselt werden.

Wieder: »Giulia Gwinn!«-Rufe.

Noch während des Spiels teilte der DFB mit, dass bei Gwinn das Knie betroffen ist. Ein MRT am Samstagmorgen soll Gewissheit über die Schwere der möglichen Verletzung bringen.

Ohne Gwinn erlebten die DFB-Frauen den Tiefpunkt ihrer Geschichte

Kurz vor Mitternacht, gut eine Stunde nach dem Abpfiff, kamen die deutschen Spielerinnen durch die Interviewzone. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung. Einerseits war Erleichterung über den Auftaktsieg zu spüren, andererseits Sorge, die Nachfolgerin von Alexandra Popp als Kapitänin verloren zu haben.

Wück nannte es einen »bitter erkauften Sieg«.

Die Frage ist, ob der Preis womöglich sogar unbezahlbar sein könnte.

Gwinn ist die neue Anführerin einer Mannschaft, die sich nach den Rücktritten von Popp und weiteren erfahrenen Spielerinnen in einem Wandel befindet und Führung benötigt. Die Rechtsverteidigerin ist außerdem eine der konstantesten Spielerinnen im DFB-Team. Lesen Sie hier  ein Porträt über Gwinn.

Wie wichtig sie ist, konnte man bei der WM 2023 erleben. Sie fehlte damals aufgrund der Folgen ihrer zweiten Kreuzbandruptur, und Deutschland konnte sie auf der rechten Abwehrseite schlichtweg nicht ersetzen. Das Endergebnis war das erste WM-Vorrunden-Aus in der Geschichte des DFB bei den Fußballerinnen.

Droht ein solches Szenario nun erneut, sollte sich der Verdacht einer schweren Verletzung bestätigen?

Wamser kämpft sich ins Spiel

Wamser kämpft sich ins Spiel

Foto: Matthias Hangst / Getty Images

Wück hat auf der Gewinn-Position jedenfalls hoch gepokert. Er nominierte für die 26-Jährige keinen klassischen Ersatz, sondern mit Carlotta Wamser eine vielseitige Außenbahnspielerin mit Qualitäten in der Offensive. Sogar bei ihrem Verein Eintracht Frankfurt (ab der neuen Saison spielt sie für Bayer Leverkusen) war manch einer überrascht, dass die 21-Jährige als Ersatz für Gwinn eingeplant ist.

Der Gwinn-Ersatz punktet sofort

Wamser kam für Gwinn in der 40. Minute. Es war erst ihr drittes Länderspiel, ihr erstes bei einem großen Turnier und dann in so einem Moment. Ihr Arbeitsnachweis: Sie bereitete das 1:0 durch Jule Brand vor, spielte den vorletzten Pass beim 2:0 von Lea Schüller, es war ein Traumeinstand.

Auf der Pressekonferenz sah sich Wück mit der Nominierung von Wamser bestätigt. Freigang sagte über die Teamkollegin, die sie aus Frankfurt gut kennt: »Carlotta ist ein unfassbares Energiebündel.« Sie habe ein exzellentes Auge für offensive Aktionen.

Gegen die auf den Flügeln nicht besonders aktiven Polinnen blieb jedoch die Frage unbeantwortet, wie stark Wamser gegen offensiv denkende Gegnerinnen ist, wie stark sie als Verteidigerin ist. Am Dienstag gegen Dänemark und am kommenden Samstag gegen das hoch eingeschätzte Schweden warten sehr viel schwierigere Aufgaben.

Gleichzeitig ist aber auch klar: Es gab ohnehin nicht viele Alternativen für Gwinn, das hat die WM 2023 bereits verdeutlicht. Somit ist Wamser zwar eine riskante, aber auch keine abwegige Idee.

Am liebsten wäre es den meisten wohl, wenn diese Idee trotzdem erst in fernerer Zukunft getestet würde, nicht mitten in einem Turnier.

Freigang sagte: »Ich hoffe, es sah bei Giulia nur schlimmer aus, als es letztlich wirklich ist.«

Wahrscheinlich wird der DFB bereits am Vormittag eine Diagnose mitteilen. Wer die Bilder der Rettungsaktion von Gwinn gesehen hat, das Tempo, die Drehung des Beins, weiß, dass die Münchnerin schon sehr viel Glück gehabt haben müsste. Oder nicht so extrem viel Pech.

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