Edzard Reuters Kunstsammlung wird versteigert

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Herr Boll, kannten Sie Helga und Edzard Reuter, die beide 2024 gestorben sind, persönlich?

Ja, wir sind uns immer wieder gesellschaftlich begegnet, aber es war keine enge Freundschaft.

Welche Bedeutung hatte Edzard Reuter Ihrer Einschätzung nach als Konzernchef, aber auch für die Kunstsammlung von Mercedes-Benz?

In dem Stuttgart, in dem ich in den Neunziger- und frühen Zweitausenderjahren gelebt habe, war Edzard Reuter eine unglaublich einflussreiche Persönlichkeit. Er war von 1987 bis 1995 Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG – eines der größten deutschen Unternehmen und wahrscheinlich das wichtigste in der Region Stuttgart. Reuter war hoch geachtet und sehr sichtbar in der Kunstszene. Die Unternehmenssammlung hat sein Freund Hans Baumgart begründet und aufgebaut. Sie bekam große Impulse durch Edzard Reuter, zentrale Werke wurden während seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender angeschafft. Für die Wahrnehmung dieses Konzerns in der Kulturwelt war er sehr wichtig.

Welche Anliegen verfolgten die Reuters als Privatsammler?

Sie waren sehr intellektuelle Sammler rein zeitgenössischer Kunst. Die Werke ihrer Kollektion stammen aus der Zeit zwischen den mittleren Fünfziger- und mittleren Neunzigerjahren. Die Reuters kommen aus dieser geistigen Schule der Nachkriegszeit, für die Ausdruck der westlichen Moderne ein abstrakter war. In den Neunzigerjahren mit der Wiedervereinigung und der neuen Begeisterung für die Figuration – also die Entdeckung der Leipziger Maler-Schule oder auch der School of London – schlug das Pendel wieder in eine andere Richtung. Diese Bewegung haben die Reuters nicht mitgetragen. Ihre philosophische Grundidee war vielmehr, dass die Demokratie sich abstrakt äußert: Man ist zeitgenössisch in den kulturellen Äußerungen, hat moderne Architektur und geht nicht zurück in Historismus. Den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses fanden sie zum Beispiel nicht interessant oder zeitgemäß.

War das im Falle von Edzard Reuter, des Sohns des früheren Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter, auch biographisch begründet?

Wenn man sich die Geschichte dieser Familie anschaut, das Leben von Edzard Reuter, die Emigration während des Dritten Reiches in die Türkei – was sicherlich eine kulturelle Offenheit mit sich brachte –, der Wiederbeginn nach dem Krieg, dann wird es begreiflich, dass sich die Reuters etwa für die Frage interessierten, wie Kunstschaffende mit den Herausforderungen ihrer Zeit umgehen, aber natürlich auch mit dem Erbe. Die Schlussfolgerung war, europäisch zu sammeln und durchgängig abstrakt.

Helga und Edzard Reuter lebten mit ihrer Kunst. Wie kann man sich ihr Privathaus in Stuttgart-Schönberg vorstellen?

Es hatte nichts Pompöses, aber es war ein großzügiges, den Bauhausideen entsprechendes Haus der Nachkriegszeit mit Sichtbeton im Stil des Brutalismus. Die lichtdurchfluteten Räume waren bis in den letzten Winkel mit Kunst bestückt. In diesem Haus wurde gelebt, mit vielen Büchern und Zeitungen, die herumlagen, es war keinesfalls ein Showroom.

Welche Kunstbewegungen und Künstler faszinierten das Paar?

Vornehmlich geometrische Abstraktion, Op-Art, kinetische Kunst kontinentaleuropäischer Künstler, auch einiger Südamerikaner wie Carlos Cruz-Diez oder Jesús Rafael Soto, aber die lebten in Paris und waren sehr europäisch orientiert. Die deutschen Malerfürsten interessierten sie weniger. Und wenn deutsche Kunst, dann aus der ZERO-Bewegung: Heinz Mack, Günther Uecker, Otto Piene. Eher exotisch ist es, dass Peter Roehr in der Sammlung vertreten ist. Er starb sehr früh und blieb ein Insider-Künstler, was zeigt, wie die Reuters mit der Kunstwelt der Zeit vernetzt waren. Im Garten stand eine große Skulptur von George Rickey und innen ein Norbert Kricke, das ist auch interessant. Es sind zwei naheliegende Positionen, die die alte europäisch-amerikanische Achse symbolisieren. In der Sammlung zeigt sich eine starke französische Präsenz, neben Yves Klein wurden François Morellet gesammelt, der jetzt wieder in Mode gekommen ist, Jean Tinguely oder der Belgier Pol Bury. Einen beachtlichen Raum nehmen italienische Künstler ein, etwa Lucio Fontana, Enrico Castellani, Piero Manzoni, Francesco Lo Savio, um die großen Namen zu nennen. Es ist eine Sammlung, die für diese Generation relativ typisch gewesen ist.

Wie viele Werke werden am 28. Mai versteigert?

Der Katalog für die Pariser Sammlungsauktion umfasst fünfzig Werke. Weitere 26 Arbeiten kommen in den regulären Pariser Auktionen im Oktober und im Dezember zur Versteigerung.

Können Sie einige Toplose nennen?

Von Yves Klein stammt das am höchsten bewertete Werk mit einer Taxe von 600.000 bis 800.000 Euro. „Relief planétaire-terre, Marseille/Aix“ von 1961, ganz in Klein-Blau, war den Reuters sehr wichtig und hatte einen zentralen Platz. Unter den italienischen Künstlern ist ein Lochbild von Fontana das teuerste Los, auf 400.000 bis 600.000 Euro geschätzt. Bedeutend ist auch ein schwarzes Werk von Enrico Castellani, das mit 200.000 bis 300.000 Euro bewertet wird. Die deutschen Künstler und Werke sind alle sehr präzise zusammengetragen, wobei die drei Nagel-Werke von Uecker mit Taxen zwischen 80.000 und 200.000 Euro die wertvollsten sind. Zur Versteigerung kommt auch eine besonders schöne Reliefarbeit von Tinguely, die sich bewegt. Sie hat einen schwarzen Hintergrund, und weiße, aus Metall geschnittene Strukturelemente sitzen auf Achsen, die ein kleiner Motor rotieren lässt. Das wirkt zauberhaft. Die Taxe liegt bei 100.000 bis 150.000 Euro.

Weshalb wird die Sammlung versteigert, und warum nicht in Deutschland?

Das Ehepaar verstarb im vergangenen Herbst und hatte keine Kinder. Schon vor vielen Jahren hatten die Reuters entschieden, eine Stiftung zu gründen, um für ihre gesellschaftspolitischen Anliegen einzustehen. Sie widmet sich Fragen der Völkerverständigung und des kulturellen Austausches. Der Erlös der Sammlung – wir rechnen mit drei bis fünf Millionen Euro – kommt, wie testamentarisch vorgesehen, dieser Stiftung zugute. Die Versteigerung findet in Frankreich statt, weil sie einen recht großen Anteil an französischen Künstlern hat. Seit dem Brexit hat sich die Nachfrage nach italienischen Positionen der Nachkriegszeit in Paris neu verortet. Für diese beiden Teile der Sammlung können dort die höchsten Preise erzielt werden. Wir sehen jetzt vor allem in Europa eine Begeisterung für die Nachkriegskunst unseres Kontinents, nachdem wir uns seit Jahrzehnten die figurativen Schulen angeschaut haben. Ich glaube, dass die Sammlung für ihren Marktauftritt in Paris einen guten Moment erwischen könnte.

Dirk Boll ist Vorstand des Auktionshauses Christie’s und zuständig für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.

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