Ausstellung zu Wilhelm Wundt: Er war der Stolz der deutschen Geisteswelt

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An Wilhelm Wundt erinnert in Leipzig einiges: die nach ihm benannte wichtigste Ausfallstraße nach Süden, der nach ihm benannte Platz im Clara-Zetkin-Park, wo 1920, kurz nach seinem Tod, von der Stadt eine nach ihm benannte ­Eiche gepflanzt wurde, das nach ihm benannte Institut für Psychologie an der hiesigen Universität sowieso. Aber wer wüsste heute selbst in Leipzig noch, was Wilhelm Wundt einmal war? Der ganze Stolz der deutschen Geisteswelt. Der Begründer des wissenschaftlichen Verständnisses von Psychologie. Eine geradezu faustische Gestalt im Bemühen, nicht nur viel, sondern alles zu wissen.

Das ganze Kaiserreich vergötterte ihn dafür. Und als Wundt 1912 seinen achtzigsten Geburtstag beging, ließ der AStA der Universität Leipzig keinen Geringeren als den gefeierten Künstler Max Klinger die Glückwunsch­adresse („der gesamten Leipziger Studentenschaft, die sich einig fühlt in Bewunderung und Verehrung für ihren Lehrer“) illustrieren. Damals waren die Studentenvertretungen nicht rebellisch, sondern willfährig. Und Wundt stand mit achtzig tatsächlich noch immer am Katheder; am Ende wird er das in Leipzig 88 Semester lang getan haben – mutmaßlich ein Rekord.

Rückgewinnung eines Raums

Kein Wunder also, dass die Universitätsbibliothek Albertina den 150. Jahrestag von Wundts Amtsantritt in Leipzig zum Anlass für eine große Ausstellung nimmt. Man beachte: „groß“. Das war seit dem Abgang des früheren Albertina-Direktors Ulrich Johannes Schneider vor drei Jahren nicht mehr der Fall; der ­eigens eingerichtete Sonderausstellungsraum direkt neben dem Foyer, den Schneider in enger Kooperation mit den Teilnehmern seiner Seminare konstant und eindrucksvoll bespielt hatte, lag brach; als Feigenblatt wurde im kleinen Vorraum eine Vitrine in zweimonatlichem Wechsel mit Winzpräsentationen bestückt, die auf den Sammelnamen „EinBlick“ hörten und in der Tat mit einem Blick auch schon ausreichend erfasst waren. Doch nun ist es wieder wie früher: materialreich und intelligent. Und alles selbstverständlich aus eigenen Universitätsbeständen – bis hin zum erhaltenen Sprechstundenschild Wundts, dessen Replik man originellerweise auf der Eingangstür zum Ausstellungsraum angebracht hat. Dankenswerterweise sind die Öffnungszeiten weitaus großzügiger angelegt: täglich acht Stunden statt zweimal wöchentlich eine.

 das Kymographion, ein Registrierapparat körperlicher Signale, wie etwa des PulsesAus Wundts Forschungslabor: das Kymographion, ein Registrierapparat körperlicher Signale, wie etwa des PulsesJekaterina Kredovica

Die Leipziger Bestände zu Wundt sind überreich, denn der Nachlass wird von der Universität verwahrt, zuletzt sogar noch ergänzt um eine Schenkung seiner Nachkommen und mittlerweile komplett digitalisiert. Man könnte also auch alles im Netz sehen. Aber allein der (bisweilen wohl auch faule) Zauber der für Wundt entwickelten Untersuchungsgeräte, mit denen er physiologische Regungen von Probanden registrierte, auf dass seine psychologische Forschung eine empirische Basis bekomme, ist nur durch die Apparaturen selbst zu vermitteln, die da in den Vitrinen stehen: Schallhammer, Kymographion, Chronoskop, Farbenkreisel, Lippenschlüssel – rätselhafte Zeugnisse der Technikgeschichte und des wissenschaftlichen Positivismus.

Er wetterte gegen den englischen Händlergeist

Dabei war Wundt geprägt vom deutschen Idealismus. In Leipzig bekleidete er gar keinen Lehrstuhl für Psychologie (das Universitätsfach gab es noch gar nicht, und Wundt etablierte es dann selbst, als er von 1879 an anfing, experimentelle Untersuchungen durchzuführen), sondern eine Professur für Philosophie, für die man dem promovierten Mediziner allerdings nachträglich eine geisteswissenschaftliche Ehrendoktorwürde zuschanzen musste, damit er überhaupt die Voraussetzungen für seine Berufung erfüllte. Das schriftliche Hauptwerk des gebürtigen Badeners ist denn auch ein philosophisches: Sein „System der Philosophie“ erschien erstmals 1883, wurde zeitlebens immer wieder überarbeitet und unter dem Titel „Sinnliche und übersinnliche Welt“ auch für ein größeres Publikum vereinfacht. Und noch in seinem Sterbejahr publizierte Wundt das memoirenartige Buch „Erlebtes und Erkanntes“, in dem er gegen den britisch dominierten Utilitarismus wetterte, in dem er jenen Materialismus und Individualismus begründet sah, die seine Welt ins Unglück gestürzt hatten.

 der Sonderausstellungsraum der Leipziger Universitätsbibliothek Albertina. Blick in die Wundt-AusstellungEndlich wieder genutzt: der Sonderausstellungsraum der Leipziger Universitätsbibliothek Albertina. Blick in die Wundt-AusstellungUniversitätsbibliothek Leipzig

Weil Wundt das so empfand, gehörte er im Ersten Weltkrieg zu den nationalistischen Stimmen aus der deutschen Geisteswelt, und seine war besonders gewichtig – zumal er sich idealismusgerecht der Völkerpsychologie verschrieben hatte. Die Ausstellung macht über aufgeschlagene Pu­blikationen und Dokumente somit auch die Abgründe eines Lebens deutlich, das selbst den Platz an der Sonne bereits genoss, den Wundt für seine Nation einforderte.

Auch international war Wundts Ruhm groß. 1889, als die Universität München ihn abwerben wollte, machte man ihn in Leipzig kurzerhand zum Rektor. Das festliche Mittagessen zu diesem Anlass brachte dem neuen Amtsträger eine Getränkerechnung ein, die zweien seiner Monatsgehälter entsprach – mutmaßlich deshalb wird er sie aufbewahrt haben; wir lesen heute mit Interesse, wo die 242 Flaschen Wein herkamen: Rheingau, Champagne, Bordeaux, Madeira, Portugal. Seine Schüler wiederum kamen aus der ganzen Welt nach Leipzig.

Was hier exemplarisch in Bild und Text und sogar Ton (ein Mitschnitt von 1919) vorgeführt wird, ist eine repräsentative Gelehrtenexistenz zu einer Zeit, in der die Wissenschaft in Deutschland höchste Achtung genoss. Aber noch 1980 war Wundts Ruf groß genug, um in seinem Namen den Internationalen Kongress für Psychologie in Leipzig auszurichten: mit 4000 Teilnehmern die größte wissenschaftliche Veranstaltung, die es in der DDR gegeben hat. Lange ist es her. Zeit, sich wieder an Wundt zu erinnern. Und jetzt eben anders als an einen Helden, als den man ihn in der Memorialkultur gerade in Leipzig sonst dargestellt hat. Das leistet diese Ausstellung – nun ja – heldenhaft.

„Sinnliche und übersinnliche Welt“ – Wilhelm Wundt und die Psychologie in Leipzig. In der Universitätsbibliothek Albertina, Leipzig; bis zum 19. Oktober. Der sehr bild­reiche, leider aber leseunfreundlich weiß auf schwarz gedruckte Katalog kostet 20 Euro.

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