Nach einem vorläufigen Bericht zum Absturz des Air-India-Flugzeugs vor einem Monat stehen nun zwei Regler und die Piloten im Fokus. Aus dem Report der indischen Behörde für Flugunfall-Untersuchung geht hervor, dass der Absturz mit 260 Toten möglicherweise auf eine unterbrochene Treibstoffzufuhr zurückzuführen ist. Die Regler für die Kraftstoffzufuhr der beiden Triebwerke seien unmittelbar nach dem Start fast gleichzeitig auf die Position »abgeschaltet« gesprungen, heißt es. Wird die Treibstoffzufuhr unterbrochen, liefern die Triebwerke keinen Schub mehr und das Flugzeug verliert an Höhe.
Luftfahrtexperten, die nicht an der Erstellung des Berichts beteiligt waren, kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen. Graham Braithwaite von der Cranfield University sagte der BBC, solche Treibstoff-Regler könnten nicht leicht abgeschaltet werden. Es handle sich um »wirklich wichtige Schalter«, die davor geschützt seien, dass jemand sie versehentlich berühre.
Wenn ein Pilot einen solchen Schalter betätigen wolle, müsse er diesen »anheben und sehr bestimmt in die gewünschte Position bewegen«, erklärte der Professor für Sicherheit und Unfalluntersuchung. Braithwaite wies aber auch darauf hin, dass in dem Bericht nicht behauptet werde, ein Pilot habe den Schalter bewegt.
Der Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt zeigte sich im SPIEGEL-Gespräch überzeugt, dass einer der beiden Piloten die Treibstoffzufuhr absichtlich unterbrochen habe . »Alles deutet darauf hin, dass es ein Suizid war. Dass einer der beiden Piloten dieser Maschine bewusst die Treibstoffzufuhr unterbrochen hat – und das genau in dem Moment, in dem das Flugzeug am verwundbarsten war, unmittelbar nach dem Abheben.«
Verriegelungsfunktion nicht intakt?
Die Vereinigung Cockpit, der Berufsverband des Cockpitpersonals in Deutschland, warnt hingegen vor vorschnellen Bewertungen. Aus Sicht der Vereinigung lässt der bisher vorgelegte Bericht »keinen eindeutigen Schluss auf eine absichtliche Handlung zu«, heißt es in einer Mitteilung. »Wichtige technische und systemische Aspekte sind nach wie vor ungeklärt.«
Als Beispiel nannte sie den Schalter zur Kontrolle der Treibstoffzufuhr, »bei dem unter Umständen die Arretierungsfunktion, das sogenannte ›Locking Feature‹, nicht intakt gewesen sein kann. Dies kann unbeabsichtigte Betätigungen begünstigen. Trotz bekannter Sicherheitsbedenken wurde dieses Bauteil bei Air India weder überprüft noch durch eine verbesserte Version ersetzt.«
Behörde: Keine Handlungsempfehlung für Boeing
Die indische Behörde für Flugunfall-Untersuchung weist in ihrem Bericht auf ein Bulletin der US-Luftfahrtbehörde FAA von Dezember 2018 hin, in dem es um diese Regler für die Kraftstoffzufuhr ging. Die FAA empfahl damals unter anderem Eigentümern und Betreibern von Flugzeugen des Modells Boeing 787-8, am Boden zu prüfen, ob die Verriegelungsfunktion der Regler funktioniert. Falls nicht, sollte der Regler laut FAA bei nächster Gelegenheit getauscht werden. Zuvor sei Boeing von einzelnen Boeing-737-Betreibern gemeldet worden, dass bei ihren Flugzeugen die Verriegelungsfunktion nicht aktiviert gewesen sei.
Das Bulletin von 2018 war eine Information, keine verpflichtende Lufttüchtigkeitsanweisung. Aus dem aktuellen Bericht geht hervor, dass Air India die vorgeschlagene Inspektion nach eigenen Angaben nicht durchführte, da es sich um eine Empfehlung und keine verpflichtende Anweisung gehandelt habe. Seit 2023 sei kein Defekt des Treibstoff-Reglers im schließlich abgestürzten Flugzeug gemeldet worden.
In diesem Stadium der Untersuchungen gebe es »keine Handlungsempfehlungen für die Betreiber und Hersteller von Boeing 787-8 und/oder GE GEnx-1B-Triebwerken«, teilte die Behörde mit. An den Untersuchungen beteiligten sich auch Experten von Boeing, der Bundesluftfahrtbehörde der USA sowie des Triebwerkherstellers GE.
Der Chef der Fluggesellschaft Air India, Campbell Wilson, sagte, der Bericht liefere zwar zusätzliche Details zu dem Unglück. Aber: »Wenig überraschend sorgte er sowohl für mehr Klarheit als auch für zusätzliche Fragen.« Der Bericht habe weder eine Ursache genannt noch Empfehlungen ausgesprochen, erklärte Wilson am Montag in einem internen Memo, das der Nachrichtenagentur Reuters vorlag. »Daher bitte ich alle dringend, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, da die Untersuchung noch lange nicht abgeschlossen ist.«