Zum Tod des komischen Universalkünstlers Ernst Kahl

vor 10 Stunden 1

Mehr als er konnte keiner, denn er konnte einfach alles. Ernst Kahl war ein Universalgenie der Komik, ein Alleskönner und Allesverlacher, der nur eines partout nicht konnte: sein Publikum langweilen. Wenn der kleine Mann mit den großen blauen Augen dichtete, dann war das gereimte Malerei; malte er, geriet ihm das zur mitreißenden Komposition; komponierte er, dann sang er auch dazu; sang er, war das klingende Bildhauerei.

Und wenn er Bilder haute, war das sinnhaltige Gewalt, denn so schuf er gewaltig komische Werke in Wort („Mein Brustumfang ist klein. Die Finger kurz und fein.“) und Bild („Jesus zeigt Lenin seine Wundmale“), in Musik („Kahl, Ernst Kahl: Goldenes Herz und Muskeln aus Stahl“) und Skulptur („Die Braut des Maurers“ – ein Stück mannshoch gemauerte Wand mit Loch in der Mitte). All dies legte die Vermutung nahe, dass sich vom Namen Kahl sogar das Wort Kahlauer ableitete.

 Ernst Kahls „Frühstück im Freien“ frei nach ManetVergessene Katastrophen: Ernst Kahls „Frühstück im Freien“ frei nach ManetErnst Kahl

Doch nur im Flachen wird die Höhe sichtbar, und Kahl wurde durch die sogenannte Hochkunst geprägt. Von Dürer und Busch lernte der Kunststudent den Einsatz von Tusche und Lasur, von Arcimboldo und Bosch die meisterliche Pinselführung und Farbentfaltung. Doch wie Loriot ließ auch Kahl die zweidimensionale Bildnerei beizeiten ruhen, schrieb die Drehbücher zu „Werner – Beinhart!“ (1990) oder „Wir können auch anders“ (1993), filmte und spielte selbst, veranstaltete komische Diaabende („Buenos Dias“) und nahm unter dem Bandnamen „Die trinkende Jugend“ mit Hardy Kayser mehrere Langspieler auf, die er selbst betextet, komponiert und besungen hatte. All das nur, um seinem Hund Manfred ein herzerschütterndes Liebeslied zu singen: „Der schönste Hund im Rudel, das ist und bleibt der Pudel.“

Frühes Aufsehen erregte sein animalisches Kompendium „Bestiarium Perversum“ (1985), in dem die Praktiken der Protagonisten vor allem deshalb tierisch komisch wirken, weil ihnen nichts Menschliches fremd ist. Das Komische teilte sich bei Kahl stets eine gemeinsame Grenze mit dem Grauen, vom erfüllenden Höhepunkt bis zum gähnenden Abgrund war’s meist „nur ein kurzer Augenfick“.

So alt wie die Bundesrepublik

Ernst Kahl war so alt wie die Bundesrepublik, jedoch viel lustiger. Im äußersten Norden aufgewachsen, erkrankte er mit vier Jahren wie fast alle Kinder seines kleinen Rundlingsdorfes an Kinderlähmung. Viele Wochen verbrachte er auf einer Quarantänestation, sein einziger Begleiter war das „Große Wilhelm-Busch-Buch“. Als Halbwüchsiger floh er die Leere Holsteins und machte eine Lehre als Dekorateur, bereiste Deutschlands Fußgängerzonen und lebte „von Lautenspiel, Zeichnerei und Mundraub“, wie er in seinem fulminanten Bilderband „Tafelspitzen“ schrieb, bis die Hamburger Kunsthochschule sein Talent erkannte und ihn als Stipendiat aufnahm.

Die schönen Seiten des Lebens lernte Kahl als Hilfslehrer auf der Hallig Hooge kennen und als Leichenwäscher. Die Schrecknisse des Daseins fand er an jeder Ecke, schon im Gemüseladen nebenan. „Esst Fleisch!“ und „Vegetarier raus!“ steht auf den Transparenten demonstrierender Gurken, Kohlköpfe und Kürbisse – so zu sehen auf dem Werk „Gemüseauflauf“ (1996). In allen großen Zeitungen und wichtigen Magazinen des Landes waren seine Bilder zu sehen, doch strahlte Kahl weit über den Blätterwald hinaus.

Seinen panurgischen Witz belegt eine so einfache wie stille Aktion, die wohl gerade deshalb einen Aufschrei erweckte: als nämlich Kahl parallel zur „Documenta IX“ in der Kasseler Innenstadt ein ganzes Schaufenster voller lebender Grünpflanzen über Wochen hinweg verwelken und verdursten ließ. Titel: „Pflanzen fasten für den Erhalt des tropischen Regenwaldes vom 13. 6. bis 20. 9. 1992“. So geriet Kahls komische Kunst nonchalant zur „sozialen Plastik“ – in genau der Stadt, in der der notorische Sozialplastiker J. Beuys einst 7000 Eichen pflanzen ließ. Dafür erntete Kahl Wut, Hass und gutbürgerliche Empörung, was den leidenschaftlichen Provokateur mit Zufriedenheit erfüllte. „Komik ist Notwehr“, sagte er und räumte im Laufe eines hochproduktiven Künstlerlebens dann auch konsequent sämtliche Preise ab, die im immer noch viel zu schmalen Regal der komischen Künste zu finden sind.

Die letzten Jahre verbrachte der Allesverlacher Ernst Kahl als Bahnhofsbesitzer in der nordfriesischen Heimat, stolz und zurückgezogen. Nicht vergehen werden seine Bilder, Filme und Lieder. Wie sang Kahl einst im Duett mit Hardy Kayser? „Verlier nicht den Kopf und fürchte dich nicht! Sieh nur, im Kühlschrank: Da brennt noch Licht.“ Am Samstag ist Ernst Kahl im Alter von 76 Jahren gestorben.

Gesamten Artikel lesen