Wolfgang Ullrichs Buch Identifikation und Empowerment

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Jeff Koons und das Pussyhat Project haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Koons verkauft etwa teure, blaue Hunde und gehört zu den bekanntesten Künstlern der Welt. Die feministischen Pussyhats tragen Wollmützen auf Demonstrationen, um gegen das Stereotyp der häkelnden Hausfrau zu protestieren. In ihrem aktivistischen Kontext ist nicht ausgeschlossen, das zeigen die jüngeren Farbanschläge auf Kunstikonen, dass ein Künstler wie Koons aufgrund der Preise, die er erzielt, zum Feindbild wird; jedenfalls scheint er nicht direkt ein Partner in gemeinsamer Sache zu sein.

Von daher überrascht es, wenn Wolfgang Ullrich eine Parallele zwischen beiden Sphären entdeckt. Hier wie dort gehe es um „Identifikation und Em­powerment“ – so der Titel von Ullrichs neuem Buch. Er stellt darin die Verbreitung identifikatorischer Angebote in der Gegenwartskunst vor. Das ist bei politischen Kunstformen wie den Pussyhats nicht unbedingt etwas Neues, aber schließt im Vergleich mit Jeff Koons oder Damien Hirst gerade an diesen etwas auf. Man versteht die Faszination ihrer popkulturellen Erzeugnisse besser, wenn man die einladende Geste daran erkennt, die, so Ullrich, „keine Hemmschwellen errichtet und den Menschen nicht das Gefühl gibt, sie wüssten zu wenig oder seien nicht schlau genug“.

Das Kunstwerk der Gegenwart, so die These Ullrichs, verspricht dem Betrachter, er dürfe er selbst bleiben. Darin stecke das Empowerment, die Bestärkung. Kunst, so die implizite Idee unserer Zeit, solle den Einzelnen gerade nicht verändern. Und plötzlich ergibt sich der Sinn eines Phänomens wie der Triggerwarnung, die überhaupt nur aufkommen kann, weil die Rezeptionserwartung eine des identischen Einklangs ist. Irritation ist heute nicht vorgesehen.

Schwarze, Frauen, Deutsche

Der dahintersteckende ästhetische Leitgedanke ist fragwürdig, weil er den kritischen Aspekt von Kunst vermissen lässt. Einst war gerade dies vom Werk verlangt, als für sich abgeschlossenes und rätselhaftes Erzeugnis wie eine Gewalt auf den Rezipienten zu wirken. Für die Gegenwartsliteratur hat Moritz Baßler mit dem Begriff des „Midcults“ das Gemeinschaftsstiftende, Affirmierende und Affirmative derzeit sehr populärer autofiktionaler Erzählungen hervorgehoben und kritisiert. Ullrich, der bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft in Karlsruhe war, weitet die Diagnose auf Bereiche insbesondere der bildenden Kunst aus, ist im Urteil weniger eindeutig als Baßler – und sieht sich eher als Sammler und Sortierer.

 „Identifikation und Empowerment“. Kunst für den Ernst des Lebens.Wolfgang Ullrich: „Identifikation und Empowerment“. Kunst für den Ernst des Lebens.Wagenbach Verlag

Mit der neuen Monographie setzt er die Arbeit seines vorigen Buches fort, in dem er den Begriff der postautonomen, gewissermaßen nachbürgerlichen Kunst für die jüngste Epoche vorgeschlagen hat. Mit dem selbständigen, provokativen Kunstwerk, das die westliche Moderne von etwa 1800 bis 2000 geprägt habe, verschwinde auch der Künstler als Genie. Die gleichsam kunstreligiöse Vorstellung von der Zweckfreiheit der Kunst, dem Wohlgefallen, das mit Kant interesselos zu sein hat, wird abgelöst von Funktionen, die offensiv an die Kunstprodukte geheftet werden. Das reicht vom politischen Zweck bis zur Mode. Ullrichs Ausführungen können als Optimierung seines Begriffsapparats verstanden werden. Der Autor zieht zwei Bahnen, deren erste die Entwicklung des Empowerment-Begriffs verfolgt, während die andere weiter ausgreift und nach Vorläufern identifikatorischer Kunst sucht.

Die Idee des Empowerment entstammt der Sozialarbeit und kam Mitte der 1970er-Jahre in den USA auf. Diskriminierte Menschen sollten stärker werden durch die Erinnerung an ihre Stärken. In den Neunzigern wurde dieser Ansatz neoliberal gewendet oder von seinem emanzipatorischen Gehalt befreit. Jede Verbesserung der eigenen Lage konnte jetzt als Empowerment begriffen werden, sogar das Bodybuilding. Diese individualistische Variante des Empowerment mischt sich gegenwärtig mit der älteren, kollektivistischen. Das ist die dritte Phase, die Ullrich ausmacht: In ihr wetteifern Gruppen (Schwarze, Frauen, Deutsche) um Einfluss, wobei partikulare Vorteile ebenso relevant sind wie kollektive Ideale und die Kunst sowohl Wettkampffeld (für die Kollektive) als auch motivierende Ruhezone (für die Einzelnen) ist.

Bestätigungs- und Bestärkungsschleifen

Man könnte dies jetzt für identitätspolitische Degeneration halten. Aber der einfachen kulturkritischen Abkanzelung widerspricht Ullrich mit der zweiten historischen Bahn des Buches, die zur repräsentativen Kunst der Vormoderne führt. Auch damals dienten Porträts Machtinteressen, nur dass es nicht um Bevölkerungskollektive, sondern um Herrscherfamilien ging. In einer erhellenden Perspektive auf Rubens zeigt Ullrich, dass der Künstler am spanischen Hof des siebzehnten Jahrhunderts daran arbeitete, Machtinteressen zu festigen, Philipp II. also zu em­powern durch die Gestaltung der Projektionsfläche eines starken Herrschers, mit dem man sich identifizieren konnte.

Nur warum kommt diese alte ästhetische Form heute wieder auf? Ullrich verweist hier auf die sozialen Netzwerke, die wie Bestätigungs- und Bestärkungsschleifen wirken. Ein Influencer ist ein mächtiges Vorbild, dem man nacheifert. Vielleicht könnte man diese Analyse materialistisch perspektivieren und im Anschluss an die Soziologen Andreas Reckwitz und Luc Boltanski eine grundsätzliche Kulturalisierung der Ökonomie ausmachen.

Während es im industriellen Zeitalter ausgereicht hat, funktionale Produkte in guter Qualität herzustellen, verlangen die Verbraucher heute meist auch einen Gedanken, einen Wert oder eine Idee zu ihrer Ware. Das erzwingt eine höherstufige, ideelle Valorisierung, deren Gewinnung eng mit dem verschlungen sein dürfte, was Ullrich beschreibt.

Der Begriff der Kulturindustrie erhält dadurch eine neue Wendung. Von der Warte der kritischen Theorie, auf die Ullrich zurückgreift, erscheint die beschriebene Entwicklung wie ein abermaliger Verlust. Starb die Avantgarde in Hollywood schon einmal, wird ihre Leiche auf Instagram geschändet. Ullrich benennt das Problem, verharrt aber in strategischer Ambivalenz.

Das gilt auch methodisch, insofern das neue Buch sich als Transkript eines fiktiven Podcasts präsentiert, in dem Ullrich über ein neues Buch mit demselben Titel wie dem jetzt erschienenen spricht, das es so aber eigentlich nicht gibt. Der narrative Bruch ist wie eine zweite Versicherung.

Die Daseinsberechtigung der ästhetischen Affirmation nach Ullrich ist eine politische: Sie verbessert das Los der Menschen. Autonome Kunst wiederum führt, wenn man ihre Radikalität zu Ende denkt, zu noch weitergehender Veränderung. Denn sie verlangt, dass man sich auf ihre Eigengesetzlichkeit einlässt. Dadurch würde der Betrachter ein anderer. Dieser Vorgang ist autoritär, zwingt er sich dem Rezipienten doch auf. Hier zeigt sich eine Verwandtschaft zur ästhetischen Avantgarde: Das ganze Leben und eigentlich die ganze Welt sollen verändert werden. Der Bereich der reinen Ästhetik ist damit in jedem Fall verlassen. Vielleicht müsste die Differenz zwischen affirmativer und autonomer Kunst also in einer Theorie der Befreiung diskutiert werden. Eine solche würde man von Ullrich als Nächstes gerne lesen.

Wolfgang Ullrich: „Identifikation und Empowerment“. Kunst für den Ernst des Lebens. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2024. 225 S., Abb., br., 24,– €.

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