Wimbledon: Jannik Sinner schlägt Carlos Alcaraz – Traumabewältigung in 35 Tagen

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 »Wenn ich das nächste Mal in so einer Situation bin, weiß ich, was ich anders machen muss«

Jannik Sinner: »Wenn ich das nächste Mal in so einer Situation bin, weiß ich, was ich anders machen muss«

Foto: Adam Vaughan / EPA

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Die Szene des Spiels: Es war Jannik Sinners erstes Wimbledon-Finale. Aber die Situation, in der er sich nach drei Stunden Spielzeit befand, hätte ihm nicht bekannter vorkommen können. Es lief der vierte Satz, Sinner führte 2:1, nur noch ein Punkt fehlte ihm zum Titelgewinn. Vor 35 Tagen  war er im Endspiel der French Open in der gleichen Position gewesen. Am Ende hatte er mit leerem Blick auf seinem Stuhl gesessen, während Carlos Alcaraz eine sensationelle Aufholjagd bejubelte. »Wenn ich das nächste Mal in so einer Situation bin, weiß ich, was ich anders machen muss«, hatte Sinner vor Wimbledon dem SPIEGEL gesagt . Er behielt recht und nutzte seinen zweiten Matchball.

Das Ergebnis: Jannik Sinner gewinnt ein hochklassiges, aber, anders als in Paris, kein hochspannendes Finale gegen Titelverteidiger Carlos Alcaraz 4:6, 6:4, 6:4, 6:4. Sinner ist damit der erste italienische Wimbledon-Champion und vierfacher Grand-Slam-Turniersieger. Hier geht’s zum Spielbericht.

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Eine neue Ära: Fünf Wochen nach den French Open bekam auch Wimbledon das Finale, auf das Tennisfans gehofft hatten. In Paris lieferten sich Alcaraz und Sinner eines der besten Matches der Tennisgeschichte. Auf YouTube ist es in voller Länge anzusehen, das knapp sechsstündige Video wurde fast 400.000 Mal angeklickt. Rivalitäten beleben eine Sportart, und Tennis scheint das Glück zu haben, nach der Ära der »Big 3« (Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic) nicht lange auf die nächsten Spieler warten zu müssen, die sich selbst und den Sport in neue Sphären treiben. »Was wir im Moment tun, ist großartig für das Tennis«, sagte Alcaraz vor dem Finale. Die letzten sieben Grand-Slam-Titel haben er und Sinner nun unter sich aufgeteilt, über die »Sincaraz«-Rivalität gibt es bereits ein Buch und einen Wikipedia-Artikel. Hier  erfahren Sie mehr über die beiden.

Sinners Glück im Unglück: Gegen einen angeschlagenen Djokovic war Sinner im Halbfinale derart überlegen, dass man fast vergessen konnte: Eigentlich hätte Sinner da schon gar nicht mehr im Turnier sein dürfen. Im Achtelfinale gegen Grigor Dimitrov war Sinner ausgerutscht und auf seinem rechten Arm gelandet. Sinner musste sich behandeln lassen, verlor etwas von seiner Power und die ersten zwei Sätze. Italienische Journalisten tauschten auf der Tribüne besorgte Blicke aus, ehe sich Dimitrov so schwer am Brustmuskel verletzte, dass er aufgeben musste. Sinner spielt seitdem mit anderen Schuhen, die ihm mehr Halt geben sollen, und einem weißen Kompressionsärmel am Schlagarm. Zu beeinträchtigen schien es ihn nicht.

 Eine neue Ära

Carlos Alcaraz (l.) und Jannik Sinner (r.): Eine neue Ära

Foto: Henry Nicholls / AFP

Eine furchteinflößendste Geste: Das erste »Let’s go, Carlos« wurde schon während der Seitenwahl gerufen und mit einem »Forza Jannik« gekontert. Das Publikum schien fest entschlossen, den nächsten »Sincaraz«-Klassiker zu manifestieren. Auf dem Rasen an der Church Road konnten Sinner und Alcaraz zunächst jedoch nicht an das Niveau anknüpfen, das sie auf der Pariser Asche vorgelegt hatten. Ende des ersten Satzes bekamen die Zuschauerinnen und Zuschauer dann das erhoffte Spektakel: Alcaraz machte einen langen Ausfallschritt und bekam mit dem Rücken zum Netz noch den Schläger an den Ball, der sich für Sinner unerreichbar ins Feld senkte. Zum ersten Mal legte Alcaraz seinen Finger ans Ohr. Für seine Gegner muss es eine furchteinflößende Geste sein.

Very Wimbledon: Davon unbeeindruckt startete Sinner mit einem Break in den zweiten Durchgang. Alcaraz haderte mit seiner Vorhand, das Spiel war von enormem Tempo, aber auch von Fehlern geprägt. Die Buhrufe des Publikums hatten damit jedoch nichts zu tun: Als sich Sinner zum Aufschlag bereit machte, war ein lautes Ploppen zu hören, dann flog ein Champagnerkorken aufs Feld. »Bitte öffnen Sie keine Champagnerflaschen, wenn ein Spieler gerade aufschlagen will«, sagte die Schiedsrichterin. Es ist ein Satz, der die Atmosphäre dieses Turniers auf den Punkt bringt.

Rollentausch: Sinner gegen Alcaraz ist ein Duell der Gegensätze: der in sich gekehrte Südtiroler gegen den emotionalen Spanier. Sinners Konstanz und Präzision gegen Alcaraz’ Spielfreude und Variantenreichtum. Im Wimbledon-Finale brach Sinner ein Stück weit mit dieser Rollenverteilung. Den zweiten Satz sicherte er sich mit einem spektakulären Vorhandwinner aus der Defensive heraus. Im dritten Satz ließ er einen Ball durch die Beine springen, bevor er ihn zurückspielte. Sinner zeigte Highlightschläge, die sonst Alcaraz vorbehalten waren, und ließ sich mehr als sonst Frust und Freude anmerken. Am Ende war es jedoch Sinners Konstanz, die ihm den Titel sicherte – und dadurch die grundlegende Dynamik zwischen den beiden bestätigte: Ein Alcaraz in Topform ist der bessere Spieler. Findet er diese nicht, setzt sich Sinners Beständigkeit durch.

Der entscheidende Faktor: Eigentlich ist Alcaraz ist ein kompletter Spieler. Man muss lange nach einer Schwäche suchen, findet sie aber am ehesten in seinem Aufschlag. Schon seit Längerem arbeitet Alcaraz daran, seine Aufschlagbewegung runder zu machen, bei einem Wimbledon-Vorbereitungsturnier schien der Durchbruch gelungen. Er fühle sich wie ein »Aufschlagroboter«, sagte Alcaraz. Am Sonntagabend war davon wenig zu sehen. Er schlug zwar mehr Asse als Sinner, aber nur knapp die Hälfte von Alcaraz’ ersten Aufschlägen landete im Feld. Sinner dagegen servierte deutlich konstanter als im French-Open-Finale. Nur zweimal gelang es Alcaraz, Sinner den Aufschlag abzunehmen.

 Konstanz und Präzision

Wimbledon-Sieger Sinner: Konstanz und Präzision

Foto: Glyn Kirk / AFP

Trendwende: Anfang Mai kehrte Sinner nach einer dreimonatigen Dopingsperre zurück ins Profitennis . Zweimal war er im vergangenen Jahr positiv getestet worden, die Antidopingbehörden sahen die Schuld dafür jedoch nicht bei Sinner, sondern bei dessen Physiotherapeut. Mehr dazu erfahren Sie hier .

Am Ende einigten sich die Weltantidopingagentur und Sinner auf einen umstrittenen Deal. Er verhinderte, dass Sinner ein Grand-Slam-Turnier verpasste, aber schadete seiner Reputation. Trotzdem dürften so manche Tennisfans über Sinners Wimbledon-Triumph erleichtert gewesen sein. Denn die Rivalität zwischen Sinner und Alcaraz, die den Tennissport derzeit so unterhaltsam macht, drohte, eine einseitige Veranstaltung zu werden. Fünfmal in Folge hatte Alcaraz gegen Sinner gewonnen. Nun gab es die Trendwende, mit der auch Alcaraz leben konnte. »Ich habe gegen jemanden gespielt, der ein unglaubliches Match gespielt hat«, sagte er auf der Pressekonferenz. »Ich bin also nur ein bisschen traurig über die Niederlage, ich gehe mit hocherhobenem Kopf.«

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