Wenn das Krokodilmaul zuschnappt: Theater in Indonesien

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Gewitter ziehen auf über Singapur. Noch fliegen jahrhundertealte Schattenfiguren über die Leinwand vor den Hochhäusern der High-End-Metropole. Zu den Klängen des Gamelans, eines indonesischen Orchesters aus Gongs und Metal­lofonen, zittern und schweben sie umher, die Figuren des Wayang Kulit, des traditionellen indonesischen Schattentheaters. Vom lanzenförmigen „Lebensbaum“ reichen sie über Tiergestalten bis zu Charakteren indischer Epen und javanischer Mythologie. Ihre feinziselierten Strukturen erinnern an Fraktale, an Hecken und an Ewigkeit, dem Schwarz-Weiß der Schatten entlocken sie ungeahnte Bedeutungskraft.

Dann bricht der Regen durch die schwüle Tropenluft, die Theatergruppe Sri Warisan packt hastig zusammen, es geht ins Gebäude des Nationalarchivs. Das richtet in diesem Sommer mehrere Veranstaltungen aus, die für Singapur prägende kulturelle Einflüsse lebendig halten sollen – Sri Warisan soll dabei ans indonesische Schattentheater heranführen. Und so erklärt die Theatergruppe nicht nur, dass „Wayang“ auf javanisch „Schatten“ bedeutet und „Kulit“ „Haut“ und dass damit die aus Büffelpergament hergestellten Figuren gemeint sind – sondern sie stellt auch die Geschichte Singapurs als Schattenspiel dar und bietet den begeisterten Kindern im Publikum Superheldenfiguren im Stil der Wayang-Kulit-Figuren an.

Auch bis nach Singapur also hat es das indonesische Schattentheater gebracht und in mindestens tausendjähriger Tradition bis ins 21. Jahrhundert. Andere indonesische Theaterformen blicken zwar auch auf eine lange Geschichte zurück: Wayang Topeng, das Maskentheater, oder Wayang Golek, das Puppentheater, zum Beispiel. An die Strahlkraft des Wayang Kulit reichen sie aber kaum heran.

Zuschauer kommen und gehen im Laufe der Nacht

Zu dessen Faszination gehört, dass zwei Vorstellungen in einer zu sehen sind: So wird das Geschehen nicht nur auf der Leinwand beobachtet. Das Publikum kann auch dahinterschauen und die Fingerfertigkeit des Schattenspielers bewundern oder die Schattenfiguren selbst sehen, die sich von dieser Seite als farbige Kunstwerke erweisen. Wayang Kulit lässt sich daher als Meditation zwischen Angedeutetem (dem Ephemeren der Schatten) und Erkennbarem (den bunt glänzenden Figuren) verstehen, als Grenzgang zwischen einer animistischen, von Ahnen, Göttern und Geistern beseelten und der unmittelbar sichtbaren Welt. Dieser reichen Weltwahrnehmung (im ländlichen Indonesien bis weit ins 20. Jahrhundert verbreitet, nachzulesen etwa im brillanten Roman „Tigermann“ von Eka Kurniawan) kann man sich nicht entziehen, selbst wenn man den teils auf Alt- und Hochjavanisch erzählten Geschichten nicht folgen kann.

Wie elementar die Bedeutung des Wayang Kulit für die Kulturgeschichte des mittlerweile viertgrößten Landes der Welt ist, wird etwa auch in Jakarta deutlich, wenn man in den Buden der Antiquitätenhändler der Surabaya-Straße stöbert. Im überbordenden Angebot alter Einzelstücke finden sich Wayang-Kulit-Figuren in allen Variationen, sie dienen als Motiv von Keramik oder geben Cocktailspießen ihre Form vor. Dass das Angebot Dutzender Antiquitätenhändler seine Gemeinsamkeit in Theaterdevotionalien findet: wohl in keinem anderen Land der Welt vorstellbar. In Indonesien lässt sich dies mit einer nur langsam entwickelten literarischen Tradition erklären. Lange Zeit stand das performative Erzählen des Theaters im Vordergrund.

Und heute, im boomenden Indonesien des 21. Jahrhunderts mit seinen über 280 Millionen Einwohnern und Wachstumsprognosen des Internationalen Währungsfonds, die die für China inzwischen übertreffen? Einerseits sind Schattentheater-Vorstellungen auch in Jakarta nur mit Mühe zu finden. Immer wieder wird in lokalen Medien auch beklagt, dass sich die Jugend mehr fürs Smartphone interessiere. Andererseits kommt es weiterhin vor, dass, wer es in Jakarta zu etwas bringt, seinem Heimatdorf eine Wayang-Kulit-Vorstellung finanziert. Dann wird von Sonnenunter- bis -aufgang gespielt, die Vorstellungen werden von Händlern begleitet, Zuschauer kommen und gehen im Laufe der Nacht – Theater wird zum Volksfest.

Zwei Meter große Gestalten in Gewändern mit Löwenmähne

Und es kommt durchaus vor, dass man auf seiner Reise von Darbietungen traditioneller Tänze oder Theaterformen überrascht wird: ein Spaziergang etwa durch eine Vollmondnacht in Yogyakarta, dem kulturellen Zentrum Javas, 600 Kilometer östlich der Hauptstadt: nach dem Lärm der Mopedtaxis, Straßenhändler und Batikshops nun die Stille einer verträumten Wohnsiedlung. Die einstöckigen Häuser sind von üppigen tropischen Vorgärten verdeckt, Tauben schlafen in den Vogelkäfigen. Da dringt eine liturgische Frauenstimme zu ungewohnten Rhythmen durch die Gasse. Sie lockt zu einem Nachbarschaftsfest: Zwei Meter große Gestalten in Gewändern mit Löwenmähne und Krokodilsmaul tanzen dort, zwischen Ekstase und Melancholie bewegen sie sich, schleichen mal vorsichtig umeinander, jagen sich schließlich. Wenn sie hochspringen, den Kopf nach hinten reißen und mit einem Ruck nach vorne schleudern, schnappt das Krokodilsmaul mit lautem Knall zu, nacheinander sacken sie zusammen oder verlassen die Bühne.

Auch wenn hier kein Wayang Kulit aufgeführt wurde, sondern eine Form des Reog, des traditionellen Reigens, zeigt die Szene stellvertretend, wie sich Tanz- und Theatertraditionen immer wieder wie selbstverständlich in das Leben des modernen Indonesiens mischen. Und vielleicht sind es wirklich die kleinen, beiläufigen Beobachtungen, die am meisten über die zeitlose Kraft des Theaters hier verraten: Ein Händler in Yogyakarta hat gerade eine besonders prachtvolle Wayang-Kulit-Figur verkauft, wochenlang hat er an ihr gearbeitet. Nur mit einem innigen Kuss kann er sich überhaupt von ihr trennen. Er überreicht dem Kunden sein Kunstwerk. Lächelt traurig. Es ist das Lächeln eines Mannes, der gerade seinen Schatten verkauft hat.

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