Weltkriegs-Munition: Auf dem Meeresgrund ticken die Bomben

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Die See ist still in der Lübecker Bucht, ein sonniger Oktobertag. Nichts verrät hier ein Problem, außer vielleicht ein paar gelbe Tonnen. Sie markieren den Bereich, den man derzeit besser meidet. Es ist die Sphäre von Dieter Guldin. Guldin ist Archäologe, aber das tut hier nichts zur Sache. Im Augenblick arbeitet er daran, mit ferngesteuerten Greifern Munitionskisten zu bergen, vom Grund der Ostsee.

Guldin ist Geschäftsführer der Firma Seaterra, an diesem Montag Anfang Oktober führt er Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) vor, wie das bei ihm so läuft mit der Bergung. 5800 Kilogramm Flakmunition haben seine Leute in den letzten drei Wochen hier geborgen. „Das ist mehr, als ein Feuerwerker normalerweise im ganzen Leben zu sehen bekommt“, sagt er. Zwei-Zentimeter-Munition aus Wehrmachtsbeständen, teils noch sauber verpackt in beschrifteten Kisten. „Zeug, das man ungern findet“, sagt er. „Man muss da vorsichtig sein.“

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges wollte das Zeug tatsächlich keiner finden. Jedenfalls machte sich in 19 Legislaturperioden niemand ernsthaft daran, das Problem zu lösen. Und das Problem ist groß. Schätzungsweise 1,6 Millionen Tonnen Munition lagern in Nord- und Ostsee, eine rostende Zeitbombe. „Wir sprechen hier nicht von ein paar Blindgängern“, sagt Lemke. „Sondern von millionenfacher Weltkriegsmunition, die schlichtweg von den Alliierten entsorgt wurde, um eine Wiederbewaffnung zu verhindern.“ Und an der zunehmend der Zahn der Zeit nagt. Gifte könnten auf kurz oder lang entweichen. Sie könnte der ohnehin schadstoffbelasteten Ostsee weiter zusetzen.

Begutachten, registrieren – und dann wieder zurück ins Wasser

Deswegen auch ist ein 100 Millionen Euro teures Pilotvorhaben in der Lübecker Bucht angelaufen, ein Schiff der Küstenwache hat Lemke zum Revier des Archäologen Guldin gebracht. Seine Leute arbeiten von einer Plattform aus, die auf langen Stelzen auf dem Meeresgrund steht – dort aufgestellt, wo keine Munition liegt. Von Schiffen aus war die Munition nach Kriegsende ins Meer geworfen worden, kistenweise. Ganze Schuten voll Sprengkörpern wurden versenkt. Längst gibt es Karten, auf denen alle Munition eingezeichnet ist, die bisher ausgemacht wurde. Sie sind übersät von bunten Punkten, und jeder Punkt steht für einen Haufen von Munition. „Das ist die Realität, die uns hier erwartet“, sagt Guldin. „Und wir wissen noch nicht, was da genau liegt.“

Der Plan des Bundesumweltministeriums geht ungefähr so: In einem ersten Schritt wird erprobt, wie sich die Munition genauer identifizieren und dann bergen lässt. In einem zweiten soll eine Plattform entstehen, auf der diese Munition in einer Sprengkammer verbrannt wird. Die Überreste sollen an Land recycelt oder entsorgt werden. Das klingt schon kompliziert genug, ist aber noch komplizierter, als es klingt.

In Guldins Revier werden die Kisten von Greifern gepackt und erst einmal auf die Stelzen-Plattform gebracht. Trotz ihres Alters funktioniert das mit den Holzkisten noch immer gut. Auf der Plattform werden die Kisten ausgeleert, jede Patrone begutachtet und registriert, und anschließend in Rohren aus sechs Zentimeter dickem Stahl wieder verpackt. Diese Rohre landen wieder auf dem Meeresboden, lassen sich aber nun leicht wieder bergen – für jenen Tag, an dem sie reif sind für die Sprengkammer. Guldin hat ausgerechnet, wie lange es bräuchte, bis so die letzte Bombe geborgen ist: 900 Jahre. „Jedenfalls bei dem Prozess, den wir bisher verfolgen.“ Liefe das alles im großen Maßstab, ginge es viel schneller.

Die Munition wird erst geborgen, wenn die Sprengkammer steht

Wenige Seemeilen entfernt liegt das Revier von Leif Nebel. Nebel ist Sprengmeister und Chef der Spezialfirma Eggers, die hier ebenfalls im Bundesauftrag Munition birgt. Nur arbeitet er dafür mit einem meterlangen Greifarm, der von einer Plattform die Munition freilegt, per Kamera begutachtet, um sie dann in Container zu verfrachten, ebenfalls am Grund der Ostsee. „Keiner wusste, ob das funktioniert“, sagt er. „Aber es geht.“ Auch diese Container würden erst dann geborgen, wenn die Sprengkammer steht.

Wann das sein wird, weiß kein Mensch. Erst einmal soll jetzt ein Prototyp her. Eine mobile Sprengkammer, wie sie in Kriegs- und Krisengebieten eingesetzt werden, könnte dazu auf ein Schiff verfrachtet werden. So ließe sich auch dieser Teil der Mission erproben, ehe es im großen Stil losgeht.

Welche Methode sich am Ende durchsetzt, ist ohnehin noch offen. Sprengmeister Nebel etwa hält gar nichts davon, Munition erst auf ein Schiff zu bugsieren, um sie zu bestimmen. „Weil wir fachlich zutiefst überzeugt sind, dass das nichts bringt“, sagt er. Zu viel toxisches Material könne so frei werden. In der Lübecker Bucht läuft auch ein kleiner Wettstreit der Sprengstoffexperten. Ein Wettstreit, wie es ihn nirgendwo auf der Welt gibt.

Unklar ist noch, wer die Kosten übernimmt

Denn Probleme mit Munition gibt es nicht nur in Nord- und Ostsee, sondern auch im Mittelmeer, vor der Küste Irlands und zunehmend im Schwarzen Meer. Wenn es gelinge, die Bergung im industriellen Maßstab aufzubauen, dann könne das auch der Wirtschaft nutzen, sagt Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister Tobias Goldschmidt. „Das ist eine Industrie, von der man leider sagen muss: Die hat Zukunft.“ Aber dazu muss sie erst einmal in Deutschland entstehen.

Der Plan berührt auch in anderer Hinsicht vermintes Gelände, denn die Bergung von 1,6 Millionen Tonnen Munition wird teuer. Und unklar ist noch, welchen Teil der Bund schultert und welchen die Länder, und: welche Länder. Geht es hier um Gefahrenabwehr oder eine Weltkriegsfolge? Bei ersterem wären die Länder zuständig, beim zweiten der Bund. Wenn aber die Länder sich beteiligen - dann alle oder nur die an der Küste? Für letzteres plädieren, logisch, die Binnenländer. Ein Unding, findet Landesminister Goldschmidt. „Der Zweite Weltkrieg ist ja auch nicht nur von den Küstenländern ausgegangen.“

Einstweilen aber ist diese Frage ungeklärt, genauso wie die Kostenfrage. Fest steht nur, dass das Problem weder kleiner noch billiger wird, wenn mehr Zeit ins Land geht. Und letztlich ist auch unklar, ob es bei den 1,6 Millionen Tonnen Altlasten bleibt. Denn wie viel Munition abgekippt wurde, hat in den Wirren der Nachkriegszeit keiner genau dokumentiert. Hinzu kommen Fliegerbomben, die von britischen Flugzeugen auf dem Heimweg in der deutschen See versenkt wurden, um Ballast abzuwerfen. Und dann ist Seaterra-Mann Guldin bei magnetischen Messungen auf potenzielle Munitionsfelder gestoßen, die so noch in keiner Karte vermerkt sind. Die Menge könne weit größer sein als gedacht, sagt er. „Da könnte noch ein schlafender Riese lauern.“

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