"Von Norden rollt ein Donner" von Markus Thielemann: War der Wolf schon da?

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Nicht immer nur mit dem Gewehr denken: Bei Markus Thielemann wird die Heimat zur Heimsuchung.

Aus der ZEIT Nr. 42/2024 Aktualisiert am 7. Oktober 2024, 11:30 Uhr

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Erschienen in DIE ZEIT Nr. 42/2024

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 Im getrübten Idyll, nicht weit weg von Lüneburg
Im getrübten Idyll, nicht weit weg von Lüneburg © Christine Höfelmeyer/​plainpicture

Man meint in Markus Thielmanns Roman Von Norden rollt ein Donner zunächst, in graue Vorzeit versetzt zu sein. Schon der erste Auftritt des 19-jährigen Helden Jannes Kohlmeyer zeigt, dass etwas auf dem Spiel steht. Der Schafhirte inmitten seiner Herde: "Sie erscheinen auf der Oktoberheide, auf einem Rücken der Ebene, hinter dem es nichts zu geben scheint als immerzu treibende Wolkenmaserung: zwei Hundeschemen, dann der Hirte. Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht, seine Gestalt so gebeugt, dass man ihn für einen alten Mann halten könnte. Erst als er einen Schritt macht, wird sein Gesicht erkennbar (...) Hinter ihm formiert sich sein Vieh, Hunderte Tiere. Er geht voran, und nach und nach bildet die Herde in seinem Rücken eine breite graue Schleppe."

Ist es eine biblische oder altgermanische Erscheinung, die hier aus der Heide wächst? Mensch und Tier im schicksalhaft organischen Einklang? Das ließe sich ökologisch wenden oder völkisch oder beides zugleich, und so wird es in diesem Roman auch noch kommen. Wobei Markus Thielemann merklich beherzigt, was beim Nature-Writing nun mal zum Einmaleins gehört: Die Natur soll nicht bloß die Kulisse sein, durch die dann der Mensch hindurchstolpert, sie soll ein Motor der Geschichte sein. Aber auch: Natur ist weder gut noch ursprünglich oder unberührt, kein romantisch zu verklärendes Idyll. Manchmal bringt sie sich sogar selbst in Gefahr.

Und damit auch die Kohlmeyers. Sohn, Eltern, Großeltern, sie leben als Schäfer unter dem Dach eines Hofes in der Lüneburger Heide. Dort geht es plötzlich ans Eingemachte. Der Wolf geht um! Oder waren es etwa nicht seine Spuren, die Jannes mit eigenen Augen auf der Weide gesehen hat? In den Schafzüchter-Gruppen auf Facebook ist die Hölle los: Wolfssichtungen hier, verendete Tiere da. Und vielleicht ist ja auch der Kohlmeyer-Herde schon etwas zugestoßen, das Mutterschaf humpelt in letzter Zeit so verdächtig.

Womit man mittendrin wäre in der öko-ethischen Debatte, die ja gerade tatsächlich so tobt, dass der Roman kaum aktueller sein könnte. Was sagen die Heidebewohner dem Wolfsexperten, der zum Vortrag ins Dorf kommt, um das Schreckgespenst zu entzaubern? "Man könne doch nicht immer nur mit dem Gewehr denken", meinen manche und sind damit nicht tonangebend. Die Abschussfreunde denken ideologisch. Sind Tiere jetzt die neuen Ausländer? Der Wolf, prustet man, gehöre nicht hierher, er passe nicht in "unsere deutsche Kulturlandschaft". Dabei ist die ja längst bloß noch Folklore. Denn so beliebt sie auch sind, die schnuckeligen Heidschnucken der Kohlmeyers: In Wahrheit leben die Schäfer kaum noch vom kargen Ertrag ihrer Zucht, sie leben von Touristen, die für Heidschnuckenexkursionen bezahlen. Wäre es nicht klug, die alten Gemäuer einmal so zu renovieren, dass ein Hofladen hineinkönnte und Ferienwohnungen für erholungssüchtige Städter? Nur wenn der NDR kommt, um das idyllische Naherholungsgebiet zu filmen, tragen die Schäfer noch ihre traditionellen Gewänder. Und gleich um die Ecke, aber nicht vor der Kamera: Gedenkstätte Bergen-Belsen, Hindenburgkaserne, Truppenübungsplatz Munster Süd, Rheinmetall. In der Rüstungsindustrie und bei der Bundeswehr arbeiten in der Südheide die meisten.

Es ist ein verdichtetes Gelände, in dem Thielemann seine Geschichte platziert, man will es ergründen wie ein Ethnologe. Auch immer gut: die Demontage des genretypisch erbaulichen Heimatromans. Die Idee, dass Heimat nicht Erbauung ist, sondern Heimsuchung, motiviert die vielleicht etwas gemächlich vorangebrachte Handlung: Wir erfahren, dass eine Hexengestalt auf einer Art Scheiterhaufen den Schäfer Jannes in seinen immer wilderen Halluzinationen peinigt (es könnte auch die Roggenmuhme sein, ein germanischer Korndämon mit riesigen Brüsten), wir erfahren weiterhin, was das mit Jannes’ demenzkranker Großmutter zu tun hat und wie er dazu kommt, ein in der Familie bislang tapfer beschwiegenes Verbrechen aus der NS-Zeit zu erforschen. Dann wäre – ein Klassiker in Provinzromanen – da noch der neue Herr Nachbar, er ist aus Süddeutschland zugezogen, trägt das T-Shirt einer Rechtsrock-Band und will hier plötzlich Sonnenwendfest feiern. Schließlich: der offenbar als norddeutscher Soziolekt gemeinte Sound, in dem sich die Schäferfamilie in einer Tour unterhält ("Menschenskinners", "Ach ja ne, ja macht ihr man").

Von Norden rollt ein Donner steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, was Leser aus Brandenburg, Thüringen und Sachsen besonders freuen sollte. Zumindest einmal sind sie nicht direkt angesprochen vom neuen deutschen Heimatroman. Im Westen, das erfahren sie hier, ist es auch nicht besser.

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. Roman;  C. H. Beck, München 2024; 287 S., 23,– €, als E-Book 17,99 €

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