Vom Ende des Spiels: Bernd Cailloux’ Novelle „Auf Abruf“

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Bernd Cailloux ist mehr als ein literarischer Geheimtipp: ein notorisch unterschätzter Schriftsteller, der mit wenigen Worten mehr sagt als viele mit Preisen überhäufte Koryphäen, die mit eindimensionalem Erzählen die Erwartungen des Publikums bedienen. Dabei bildet Cailloux sich auf Stilsicherheit und sprachliche Prägnanz nicht das Geringste ein, seine Prosa kommt denkbar unprätentiös daher, und vielleicht ist das der Grund, warum seine bei Suhrkamp erschienenen Bücher mit lakonischen Titeln wie „Das Geschäftsjahr 1968/69“ nicht die Beachtung gefunden haben, die sie verdienen.

Sein jüngstes Werk, die Novelle „Auf Abruf“, liefert die Probe aufs Exem­pel – die Dichte und Vielschichtigkeit des Texts ist umgekehrt proportional zum schmalen Umfang des nur 120 Seiten füllenden Bands der einst legendären edition suhrkamp. Die Novelle ist autobiographisch grundiert, die hier erzählte Geschichte scheint nicht frei erfunden, sondern am eignen Leib erlebt und durchlitten worden zu sein. Sie beginnt so, wie Fußballspiele oft enden, mit einem Tor, das den Autor im Vollbesitz seines Könnens und von der besten Seite zeigt: „Von rechts hatte Brandon, unser Kanadier, halbhoch nach innen geflankt, ein mustergültig geschlenzter Ball, dem ich entgegengesprungen war – in der Luft kurz mit der Hacke angetippt – touché – ins Tor. (...) Okay, geht doch, geht noch.“

Die Muskeln versagen ihren Dienst

Dreißig Seiten weiter und wenige Wochen später entpuppt der akrobatische Ballkünstler sich als Oblomow, der nicht mehr aufstehen kann. Nicht wie sein russisches Vorbild aus Trägheit oder Unlust, schlimmer: Die Muskeln versagen ihren Dienst, und das nicht im Bett, sondern in der Badewanne. „Der erste Versuch, aufzustehen, missglückte – die Beine reagierten nicht. Auch der zweite Versuch scheiterte, ein dritter ebenso . . . Um Kraft zu sammeln, ließ ich mich vorsichtig in die Rückenlage gleiten, nickte ein. Als ich wieder wach wurde, war das Badewasser kalt.“

 „Auf Abruf“. Eine Novelle.Bernd Cailloux: „Auf Abruf“. Eine Novelle.Suhrkamp

Drei oder vier Tage verbringt der Erzähler in der Wanne, wo nur das aus dem Hahn fließende Wasser ihn am Leben erhält. Was war passiert? Der in Berlin ansässige Autor war einer Einladung in die Provinz gefolgt, um dort eine Buchwoche zu eröffnen. Was das Malheur auslöste und wie es ablief, bleibt unklar, sicher ist nur, dass er entkräftet in der Badewanne liegt, als der von Freunden alarmierte Rettungsdienst die Wohnungstür aufbricht. Schönberg oder Schöneberg, das ist die Frage, die er im Nachhinein nicht mehr auf die Reihe kriegt, Brandenburg oder Berlin? Ein klassisches Nahtod-Erlebnis, bei dem das durch eine Blutung lädierte Gehirn wie ein zu schnell laufender Film Stationen seines Lebens mit Frauen und Freunden abspult, Wohnorte, Reisen und Berufserfahrungen rekapituliert.

Nach bestehenden Regeln schreiben und diese dabei unterlaufen

„Bewegung ist Leben“ war das Motto des Suhrkamp-Chefs Siegfried Unseld, der gern mit seinen Autoren durch Flüsse und Seen schwamm – kein Wunder, denn ein Kopfsprung aus der belagerten Festung Sewastopol ins Schwarze Meer hatte ihm im Zweiten Weltkrieg das Leben gerettet. Verglichen damit wirkt der Werdegang von Bernd Cailloux, der am 9. Juli achtzig wird, eher unspektakulär, wenn er schreibt: „Hatte mein Name es ins örtliche Telefonbuch geschafft, hörten Anrufer die Ansage: Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Oder ohne Selbstmitleid, doch literarisch anspruchsvoller formuliert: „Freier Schriftsteller sein heißt, nach bestehenden Regeln zu schreiben und diese dabei zu unterlaufen.“

Den Nahtod halluzinierend, liest der Ich-Erzähler, im Klinikbett unterwegs „Richtung steinernes Meer“, seine Nachrufe in den Feuilletons, allen voran in der F.A.Z. Die bringt sein Leben und Wirken so auf den Punkt: „Es ging ihm um äußere Beharrlichkeit und innere Flexibilität . . . Er war ein Zweifler vor dem Herrn, denn Zitat: wer die Wahrheit liebt, sollte den Zweifel heiraten.“ Das Gehirn hatte Platz für mehrere Personen, heißt es – „Doch wer könnte glaubhaft behaupten, alles über die früheren Inkarnationen seiner selbst zu wissen? Über die inneren Wandlungen, die vor sich gingen, um ein Leben als Reporter, Geschäftsmann, Tagträumer oder hinscheidender Autor führen zu können?“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bernd Cailloux: „Auf Abruf“. Eine Novelle.​ Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 120 S., geb., 18,– €.

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