Verstörende Traumspiele: Genets „Zofen“ und Lems „Solaris“ in Frankfurt

vor 9 Stunden 2

Wenn Theater heute überhaupt einmal gegen den Strom der gewaltsamen Aktualisierung historischer Stoffe schwimmt – oder noch ungewöhnlicher: gegen den der mühsamen Dramatisierung von Prosa –, dann ist das schon per se zu würdigen. Insofern kann man die Frankfurter Inszenierung von Jean Genets „Die Zofen“ sogar als besondere Ausnahme feiern: Sie aktualisiert nicht, sondern abstrahiert, ja: entmenschlicht ihre drei Figuren, die unter hautfarbenen Silikonmasken spielen und somit fast identisch aussehen, wie unheimliche Riesenbabys, die sich nur durch ihre Stimmen und ein bisschen im Körperbau unterscheiden.

Und sie muss nichts herbeidramatisieren, das nicht ohnehin in Genets metadramatischem Stücktext steckte, der 1947 die Fäden von klassischem, epischem und absurdem Theater zusammenführte in eine seltsame Fabel von zwei Dienerinnen, die den Rollenwechsel ins Herrische auskosten und zugleich davon angeekelt sind. Die gegen ihre Herrin aufbegehren und sie töten wollen. Aber am Ende ist eine der Dienerinnen tot. In dieser Inszenierung gibt es sogar zwei Tote.

Brutal in den Schrank zurückgesteckt

Die Bühne, gequetscht in den Keller der Kammerspiele, sieht aus wie eine expressionistische Schrankwand. In lila. Aus den sich quietschend öffnenden Türen purzeln die Zofen-Gnome, und manchmal werden sie auch brutal in den Schrank zurückgesteckt. Oder verschwinden in einer Falltür, unter der sich ein gluckernder Schlund auftut. Visuell und akustisch grotesk, gibt die Vorführung eine Ahnung davon, wie avantgardistische Kunst in der frühen Moderne verstörte, zusätzlich ruft sie einige im Bildgedächtnis verankerte Schock-Märchenelemente auf, von F.W. Murnau bis zu David Lynch (wobei die Perücke der Herrin eher an frühe Folgen von „Raumschiff Enterprise“ erinnert).

Wenn der Stücktext schon absurde Züge hat, so bietet diese Aufführung davon noch die Dekonstruktion: Die Rollen werden so oft getauscht, dass man den Überblick verliert. Auch der Krimi-Anteil verschwimmt im Traumhaften. Diese Unzuverlässigkeit ist erklärte Absicht und eine Teamleistung der Regisseurin Rieke Süßkow, der Bühnenbildnerin Mirjam Stängl und der Kostümbildnerin Sabrina Bosshard, die in ihrem gemeinsamen Produkt das Tiefenpsychologische und vor allem das Klaustrophobische an Genet betonen. Womit die Leistung der drei Schauspielerinnen nicht geschmälert werden soll: Aleksandra Ćorović, Katharina Linder und Nina Wolf werden in ihren Kostümen zu grässlichen Androiden, deren automatenhafte erotische, masochistische und zerstörerische Handlungen weit mehr als Geschlechterrollen in Frage stellen.

Wie ein Konzert von Pink Floyd

Viele interpretatorische Facetten sind den „Zofen“ über die Jahrzehnte abgewonnen worden, von kapitalismuskritischen bis zu komödiantischen. Zu einer Inszenierung von Luc Bondy 2008 konnte es in dieser Zeitung gar heißen, es gehe darin „um eine große Lebens- und Liebessucht“, mit der zwei Frauen sich freispielen. Hier geht es immer tiefer ins Verließ der Psyche, wo Mimik, Gesten und Handlungen vom Willen entkoppelt sind und der Mensch nur noch gespielt wird von fremden Mächten. Als die Schauspielerinnen beim Applaus die Masken abziehen, sieht man, wie anstrengend die darunter verrichtete Arbeit war.

Auch filmische Vorbilder schimmern durch in der Frankfurter „Solaris“-Inszenierung.Auch filmische Vorbilder schimmern durch in der Frankfurter „Solaris“-Inszenierung.Thomas Aurin

Was die Zofen minimalistisch beschränken, wird am folgenden Abend auf der Hauptbühne des Frankfurter Schauspiels mit einer weiteren Premiere und einer Inszenierung konterkariert, die alles aus dem Raum und dem Material des Theaters herausholt, so, wie es zumindest der Rezensent noch nie gesehen hat. Der riesige Bühnenraum wird völlig ausgeschöpft mit seinen Dreh-Elementen, Versenkungen in die Tiefe und an Seilen emporschwebenden Requisiten und Menschen, ergänzt um viel Nebel und gigantische Lichtspiele, die an ein Konzert von Pink Floyd erinnern.

Schon nach wenigen Minuten wähnt man sich in einem Musical, denn auf der Bühne wird auch gesungen und Schlagzeug gespielt, zudem die Aufführung über weite Strecken mit Electro-Beats und Sphärenklängen unterlegt, zu denen Frauenstimmen von Sternen und ihren Schatten säuseln. Dies nun ist Romanadaptionstheater, eingerichtet von Christian Friedel. Der 1979 in Magdeburg Geborene ist wohl den meisten als Schauspieler bekannt, der zuletzt neben Sandra Hüller in „The Zone of Interest“ den Auschwitzkommandanten Rudolf Höß spielte – er ist aber auch Musiker und Regisseur, hat etwa in Dresden „Macbeth“ inszeniert.

Noch Lieder zu singen jenseits der Menschen? Anabel Möbius in „Solaris“Noch Lieder zu singen jenseits der Menschen? Anabel Möbius in „Solaris“Thomas Aurin

In Frankfurt nimmt er sich in Zusammenarbeit mit seiner Band Woods of Birnam und dem Choreographen Valentí Rocamora i Torà Stanislaw Lems Klassiker „Solaris“ vor, der 1961 in polnischen Original erschien und mehrfach verfilmt wurde. Er handelt von der Besatzung einer um den Planeten Solaris kreisenden Raumstation, die konfrontiert wird mit seltsamen „Gästen“. Sie sind fleischgewordene Wiedergänger von Verstorbenen – offenbar erzeugt durch einen intelligenten Plasma-Ozean, der den Planeten bedeckt.

Den Film noch übertreffen?

Die Mittel des Science-Fiction-Films, nicht nur die von Andrej Tarkowskis „Solaris“-Adaption, sondern auch die von Vorbildern wie Stanley Kubricks „2001“, Robert Zemeckis’ „Contact“ oder „Matrix“ von den Wachowski-Geschwistern, scheint Friedels Inszenierung im Theater noch übertreffen zu wollen. In der Tiefe des Raumes hinter einer Gaze, über die digitale Animationen wabern, gelingt das zunächst eindrücklicher als auf mancher Leinwand.

In diesem multimedialen Rausch, meint man, könnte jederzeit David Gilmour ins Rampenlicht treten und auf seiner Stratocaster „Shine On You Crazy Diamond“ spielen. Man würde sich aber auch nicht wundern, wenn stattdessen der Thrillerautor Frank Schätzing mit Headset-Mikrofon aus der Versenkung hochführe und über Wurmlöcher und Paralleluniversen dozierte.

Menschen und Wiedergänger auf der Raumstation in Christian Friedels „Solaris“-InszenierungMenschen und Wiedergänger auf der Raumstation in Christian Friedels „Solaris“-InszenierungThomas Aurin

Das Pulver scheint mit dem im Chor gesungenen Song „Symmetriaden“ über die dem Ozean entstiegenen Schein-Menschen aber früh verschossen, danach laufen zwei Stunden lang Versatzstücke aus dem Roman über die Drehbühne, auf die man sich mühsam einen Reim machen muss. Auch hier herrscht bald maximale Verwirrung darüber, wer wer ist, und wer überhaupt noch lebt. Dialoge wie „Du bist tot“ - „Ja, aber das macht nichts“ sind da keine Seltenheit.

Die Figur des Psychologen Kris Kelvin changiert zwischen vier Schauspielern, für die Wiedergängerin der verstorbenen Harey braucht es drei. Unmotiviertes Lachen und ausgestellte Zerstreuung verstärken das Rätsel, manchmal bis zur Frage, womit Lem sich wohl berauscht haben mag, als er 1959 im polnischen Bergort Zakopane den „Solaris“-Stoff ersann und ob Science-Fiction-Literatur und -Kino nicht schon interessantere Fiktionen über Künstliche Intelligenz hervorgebracht haben. Trösten könnte ein Satz des im Programmheft zitierten Literaturwissenschaftlers Philipp Theisohn: „Nicht jede der Geschichten, die uns von der Beziehung zwischen Literatur und dem Weltall erzählen, besitzt zwangsläufig einen terrestrischen Erkenntniswert.“

Nach zwei Abenden mit herausfordernden Traumspielen, die ausloten, was Theater leisten kann, auf Frankfurts Straßen erst in Partyvolk zu geraten und dann in eine Masse grölender Fußballfans, ist dann aber doch zuviel an ästhetischer Schock-Erfahrung. Man möchte eine Woche schlafen, am liebsten tief und traumlos – wer weiß, ob das, angefüllt mit all diesen Eindrücken, ­ gelingt.

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