Unter jedem Dach ein Ach: Martina Behms Debütroman „Hier draußen“

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Hier draußen“ ist es schön: „Runter von der Autobahn, Kreisverkehr, dann der Wegweiser zur Landstraße, Ferndorf stand gar nicht drauf.“ Perfekt! Ein Ort im Nirgendwo, aber nah genug am Irgendwo: Danach sehnt sich der Städter. Er will den Horizont sehen. Die Kinder sollen barfuß über die Dorfstraße laufen, ein paar Tiere wären auch nicht schlecht und schnelles Internet. Von Hamburg ist das sogar pendelbar.

Ingo Fenske und Ehefrau Lara haben es sich verdient. Schließlich hat Ingo als Chef eines Start-ups für Parkraumbewirtschaftungssoftware ein kleines Vermögen gemacht, sodass der Ausbau eines Resthofs in Holstein nur Teil seiner vorbestimmten Privaterfolgsstory ist. Und so koloriert Martina Behm, die Beobachterin der dörflichen Geschehnisse, dieses Idyll: „Als Lara Ingo in der Diele traf, trug sie ihre pinkfarbenen Gummi-Clogs und eine Arbeitsjeans, die am rechten Knie aufgescheuert war.“

Teil des Deals mit dem Mann

Da leben sie also. Pinke Clogs, verschlissene Gartenkluft. Nachts ist es so dunkel im Haus mit Alleinlage, dass Lara sich gruselt. Ingo kommt oft spät, manchmal auch gar nicht nach Hause. Wenn die Kinder krank sind, ist Lara gefragt, schließlich war es Teil des „Deals“ mit ihrem Mann, dass sie hier draußen für die Abwicklung des familiären Alltags sorgt, während Ingo in Hamburg die echten Geschäfte macht. Das alles, wir wissen es, sorgt für eine Menge Frust, weswegen in Ingo Fenskes Leben einiges aus den Fugen geraten könnte, wenn der Anlass passt. Und der springt in Gestalt einer weißen Hirschkuh in die Geschichte.

 „Hier draußen“. Roman.Martina Behm: „Hier draußen“. Roman.Verlag

Das Tier kommt aus der Dunkelheit auf die ebenfalls dunkle Landstraße gelaufen und lebt nach dem Zusammenprall mit Ingos Kühlerhaube noch. Der örtliche Jäger, Uwe Hennemann, wird gerufen. Er muss dem Tier den Gnadenschuss geben – so ist es die Regel und das Gesetz der Jäger, die es dem Tier schuldig sind, es nicht leiden zu lassen. Wäre da nicht die Sache mit dem Aberglauben. In Ferndorf erzählt man sich nämlich, es bringe Unglück, ein weißes Tier zu töten. Das Töten töte schließlich den, der das Tier auf dem Gewissen habe, binnen eines Jahres.

Unglück, das gibt es reichlich auch hinter den Häkelgardinen der Eingesessenen – aber provozieren will es verständlicherweise keiner. Weswegen Jäger Uwe mit Unfallverursacher Ingo einen Kompromiss schließt. Sie schießen zu zweit. Arm auf Arm, gemeinsam dem Schicksal entgegen: „Uwe war das offenbar wichtig, obwohl er es ebenso offenbar unangenehm fand. Körperkontakt unter Männern war nur mit reichlich Alkohol okay. Und sie beide waren mehr als nüchtern.“

Sie sah so anders aus

Aus den beiden Schützen wird in diesem Roman kein Liebespaar, und ob die weiße Hirschkuh wirklich Unglück bringt oder das Leben nicht einfach Unglück für jeden bereithält, bleibt unbeantwortet. Aber allein die Legende vom Fluch der Hirschkuh lässt die Dinge, die vielleicht auch so geschehen wären, in einem anderen Licht erscheinen. Martina Behm lenkt dieses Licht mit sicherer Hand: Ein Bauer hat Burnout, ein anderer fällt ohnmächtig in die eigene Jauchegrube, ein anderer hat Krebs, und Ingos Frau zieht mit den Kindern in eine alte Hippiekommune, in der eine gewisse Jutta, die früher gebatikt hat, nun erfolgreich Schlachtkurse abhält – das alles ohne Ingo, der jetzt in dem viel zu großen Resthof allein friert. Er hat gestanden, in Hamburg ein Bordell besucht zu haben. Dort räkelte sich eine Frau vor ihm im Bett, „und sie sah so anders aus als Lara im Bett mit ihrem Biobaumwoll-Nacht­hemd, mit ihrer Gleitsichtbrille auf der Nase“. Tja.

Martina Behm, die vor ihrem Debüt als Romanautorin Redakteurin des Magazins „Brigitte“ gewesen ist und sich außerdem als Strickdesignerin einen Namen gemacht hat, erzählt wohlwollend davon, wer sich auf dem Dorf mit wem in die Wolle kriegt. Hierbei geht es weitgehend anständig zu. Niemand wird bei der Ausübung eines schmutzigen Hobbys erwischt. Die Autorin hält Abstand und erzählt doch genau von den Lebensumständen der Dörfler. Gekonnt springt sie in fünf Teilen und insgesamt 47 Kapiteln zwischen verschiedenen Familien hin und her, nimmt hier eine Masche auf, lässt da eine fallen, arbeitet einen Kragen an oder glänzt mit leichtem Ajourmuster. Nach und nach werden wir so Teil der Dorfgemeinschaft.

Was stimmt nicht mit dem?

Schweinebauer Uwe zum Beispiel ist ein trauriger Junggeselle ohne erkennbare Perversion. Und doch fragen sich alle: Warum hat er keine Frau, wieso ist er so viel allein, und was stimmt nicht mit dem? Und warum freundet sich Ingo, der Start-up-Held aus Hamburg, ausgerechnet mit diesem Sonderling im Jagdrevier an?

Dann gibt es das Ehepaar Enno und Tove Wirz. Enno entlarvt sich unter dem Blick der Autorin als fieses Ekel, das seinen Lebensfrust an der finanziell ausgelieferten Ehefrau auslässt. Wie Martina Behm die konjugalen Demütigungsrituale einfängt, ist zum Heulen: „Enno ging zur Kaffeemaschine, um sich daran zu bedienen, obwohl die noch nicht ganz durchgelaufen war. Während er sich aus der Glaskanne eingoss, zischte der heraustropfende Kaffee auf der Warmhalteplatte. Enno stellte die Glaskanne einfach wieder drunter, und Tove versuchte, den Gedanken beiseitezuschieben, dass sie später das Angebrannte von der Platten schrubben durfte.“ Wie glücklich ist sie etwas später, als die geliebten Enkel ihren Kakao verschütten: „Kakao aufwischen für ein lachendes Enkelkind, von dem sie anschließend ein Küßchen bekam: Das war fein.“

Fein genug jedenfalls, um bei der Stange zu bleiben. Denn Landfrauen trennen sich nicht, lernen wir im Roman. Einmal besucht eine Paartherapeutin die Kreisstadt und spricht von der Kunst der „langen Liebe“, und Tove denkt, „die hatten die Landfrauen doch automatisch. Oder?“

Martina Behm nimmt uns mit in die Lebens- und Gedankenwelten ihrer Dorfbewohner. Sie kippt mit ihnen den einen oder anderen Cola-Korn, sie absolviert mit der ehemaligen Grafikdesignerin Lara eine Sani-Ausbildung, denkt mit Ingo über eine Start-up-Schneckenfarm nach – und sie gibt der gebeutelten Tove den nötigen erzählerischen Schubs, sich von ihrem Mann zu trennen. All dies tut sie ohne große Gesten, allerdings auch ohne nennenswerten Thrill. So liest man dieses Buch über Menschen vom Dorf mit der anschlussfähigen Erkenntnis, dass unter jedem Dach ein Ach ist – egal ob Schweine, Schnecken oder Kinder unter diesem Dach wohnen.

Martina Behm: „Hier draußen“. Roman. Dtv, München 2025. 490 S., geb., 24,– €.

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