Fast jeden Tag findet, statistisch gesehen, in Deutschland ein Femizid statt. 360 Frauen fielen laut WHO im Jahr 2023 einem Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik zum Opfer. Das Thema ist aktuell und war es bei der Uraufführung der Oper „Voice Killer“ im Theater an der Wien umso mehr, als sich nur kurz zuvor in einer Grazer Schule ein Amoklauf mit zehn Todesopfern, darunter vorwiegend Frauen, ereignet hatte.
Mit ihrer vierten Oper, einem Auftragswerk des Theaters an der Wien, wagten sich der Librettist Tom Holloway und der tschechische Komponist Miroslav Srnka, seit dem Erfolg von „South Pole“ 2016 in München als Dream-Team des neuen Musiktheaters lanciert, genau auf dieses Terrain. Das Stück erzählt nach einer wahren Begebenheit vom amerikanischen GI Eddie Leonski, in der Oper kurz Private genannt, der 1942 im australischen Melbourne drei Frauen ermordet hat – angeblich, weil er auf der Suche nach dem Klang der Stimme seiner Mutter war. Der Gefahr, dem Täter postum noch einmal die Gelegenheit zu geben, einem sensationslüsternen Publikum Nervenkitzel zu bereiten, waren sich die Autoren durchaus bewusst. Daher wollten sie die Opfer stärker in den Fokus rücken, was aber nur bedingt gelang, obwohl sie die Biographien der Frauen in die Handlung integrierten. Letzten Endes sind Holloway und Srnka aber doch der Faszination des Bösen erlegen, denn auch sie richten den Hotspot vor allem auf den Serienmörder und dessen seelische Abgründe, bis in die Konstruktionsprinzipien der Musik hinein.
Die Frage, was einen Menschen zu solchen Taten antreibt, drängt sich dabei natürlich auf. Doch auch die Antwort scheint bereits vorgeformt: Taten wie diese gelten als abnormes Verhalten, als pathologische Ausnahmen, weil sie in das Bild einer zivilisierten und ihrem Ideal nach gewaltfreien Gesellschaft nicht passen. Dem widersprechen allerdings Theoretiker wie Jan Philipp Reemtsma: Gewalt sei auch modernen Gesellschaften strukturell eingeschrieben. Um sie zu verhindern, müsse man tiefer ansetzen, als – wie aktuell in Österreich – nach einem Amoklauf bloß schärfere Waffengesetze einzufordern.
Mag sein, dass es von einer Oper zu viel verlangt ist, über solche Dinge Reflexionen anzustellen. Aber dass Holloway und Srnka in „Voice Killer“ über gängige Erklärungsmuster kaum hinauskommen, indem sie auf die schwierige Kindheit des Mörders Private mit einem gewaltbereiten Vater und einer zu Alkoholismus neigenden Mutter hinweisen, bedient dann doch vor allem Klischees. Das findet auch musikalisch einen entsprechenden Niederschlag: In seiner Schizophrenie singt Private – großartig dargestellt von Seth Carico – teils mit seiner natürlichen Baritonstimme, teils aber auch im Falsett. In Letzterem wird er von den übrigen Figuren jedoch nicht wahrgenommen, mit fatalen Folgen für die Opfer. Privates Schizophrenie überträgt Srnka allerdings auch auf das Orchester, in dem alle Instrumente doppelt besetzt sind, diese aber jeweils eigene Wege zu gehen scheinen, womit der Serienmörder, entgegen der Absicht der Autoren, in dieser Oper allgegenwärtig bleibt.
Cordula Däupers Regie verharrt im Dokumentarischen
Mit großer Phantasie nehmen sich Regisseurin Cordula Däuper und ihr Bühnenbildner Friedrich Eggert des Stoffes an. Doch mit ihrem dokumentarischen Ansatz, bei dem häufig originale Akten auf die Bühne projiziert werden, gelingt es ihnen letztlich nicht, die Geschichte über die Fakten des Kriminalfalls hinaus auf eine zusätzliche Bedeutungsebene zu heben – so stark manche Szenen auch durchchoreographiert sind, vor allem wenn der famos singende Arnold Schoenberg Chor in Aktion tritt. Immerhin öffnet die in der Gegenwart spielende Rahmenhandlung, in der stumme Doubles der drei Frauen simultan über den Fall recherchieren, einen zusätzlichen Raum, zumal dabei kritische Töne gegenüber einer selfiesüchtigen Gesellschaft angeschlagen werden, für die das Leid anderer bloß Hintergrund ist, sich schamlos selbst in Szene zu setzen. Die Sehnsucht nach dem „fernen Klang“ der Stimme seiner Mutter, die Private nach seiner Verhaftung als treibende Kraft hinter seinen Morden nannte, scheint wie geschaffen für einen Opernstoff. Die Gelegenheit, der Kraft der menschlichen Stimme und ihrer Magie nachzuspüren, hat Miroslav Srnka allerdings nur bedingt genutzt, was umso bedauerlicher ist, weil er wie nur wenige andere Komponisten heute exzellent für die menschliche Stimme zu schreiben versteht. Dazu hätte es aber der entschiedeneren Bereitschaft bedurft, die Realität der Handlung ins Surreale zu verlängern.
In Ansätzen wird dies immerhin erkennbar, etwa wenn Srnka den Koloratursopran des Mordopfers Pauline in stratosphärische Höhen treibt, ihm aberwitzige Intervallsprünge und ein fast schon übermenschliches Maß an Virtuosität abverlangt, was Holly Flack mit atemberaubender Souveränität meisterte – wie sich überhaupt alle Sänger, Caroline Wettergreen als Ivy, Nadja Stefanoff als Gladys oder Julian Hubbard als Privates Freund Gallo, ihren Aufgaben mehr als gewachsen zeigten. Dennoch überwiegt die Faktizität der Handlung über alle Ansätze, sie künstlerisch in andere Dimensionen zu transformieren.
Auf etwas jedenfalls versteht sich Srnka hervorragend: große Spannungsbögen auszukomponieren, in denen sich die Klänge schwarmartig verdichten. Nicht zuletzt in diesen Abschnitten bewies das Klangforum Wien unter Finnegan Downie Dear sein Alleinstellungsmerkmal, das über ein enormes Gespür für die Ausdruckskraft wie auch für die Schönheit zeitgenössischer Musik verfügt. Wie zu Beginn der Oper schweigen die Klänge am Ende: Langsam entschwindet der zum Tod verurteilte und gehängte Private nach oben, zurück bleiben auf leerer Bühne im stark fokussierten Licht seine drei Opfer. Immerhin haben die drei Frauen damit tatsächlich das letzte – Bild.