Bachfest Leipzig zwischen Crossover und echter Kunst

vor 7 Stunden 1

Johann Sebastian Bachs Kosmos reichte beim Bachfest in Leipzig einmal mehr weit übers Hörbare hinaus. Man konnte sich seinen Wirkungsstätten im Umland auf einer geführten Fahrradtour nähern, wobei dann draußen in der Störmthaler Dorfkirche Klaus Mertens und Ton Koop­man mit einer Konzerteinlage aufwarteten. Es gab Vokalsätze in „Auerbachs Keller“ zu einem dreigängigen Menü und Goethes „Faust I“ als Kammerspiel, das Ganze über vier Abendstunden und für 170 Euro pro Nase; und schließlich durften jeweils 25 mit monströsen 3-D-Brillen maskierte Hörer den Meister mit blaurotem Bluthochdruckkopf aus seinem Haussmann-Porträt heraussteigen und leibhaftig zwischen ihren vorsichtig eingezogenen Beinen einherwandeln sehen: grummelnd, greinend, Schnupftabak schniefend und zwischendrin gelegentlich in die Cembalotasten greifend.

Man kann das eine „Transformation“ nennen und ist dann genau beim Motto des aktuellen, noch bis Ende dieser Woche laufenden Bachfestes. Ob man durch diese moderne Totenbeschwörung neben dem Staunen über heutige technische Möglichkeiten wirklich tiefere Einsichten über das Sein und die Einmaligkeit des Thomaskantors gewinnt, steht allerdings dahin. Wie sich denn überhaupt gelegentlich der Eindruck aufdrängte, dass es diesmal, nachdem die Treffen der vergangenen Jahre die weltweite Gemeinschaft der Bach-Freunde an Elster und Pleiße zusammenriefen, um vor allem – auch als Triumph über den Zwangs-Isolationismus der Corona-Jahre – die zusammenschließende Kraft seiner Musik zu feiern, eher um spezielle Sonderlichkeiten und Randbereiche oder abwegige Verknüpfungen seines in Zeit und Raum globalen Wirkens ging. Wer beispielsweise die süßlich-nährwertfreien, saccharinösen Darbietungen der „klassischen Band“ Spark in der Thomaskirche miterlebte, konnte durchaus vom Glauben abfallen: das Crossover-Spektakel mit dem Countertenor Valer Sabadus, viel Rampengehüpf und zum Gewölbe hin erigierenden Blockflöten (der Abend hieß „Closer to paradise“) verwandelte den Raum um Bachs Grabstätte quasi in eine temporäre ESC-Dependance. Bizarr!

DSGVO Platzhalter

Unerachtet solcher Ausreißer hat das Programmteam um Michael Maul auch im Jahrgang 25 Respekt verdient. Zum einen, weil selbst da, wo Ergebnisse noch nicht hundertprozentig aufgehen, intensive Hintergrundarbeit investiert worden ist. Für den 3-D-Bach im Bosehaus beispielsweise wurde der Schauspieler Niels Niemann verpflichtet, der sich auf barocke Bewegungsrhetorik spezialisiert hat, während der Cembalist Alexander von Heißen die zarten Hände und Martin Seifert den thüringisch-sächsischen Mischdialekt, in dem sich der historische Meister artikuliert haben mag, beisteuerten; was zwar nichts daran ändert, dass der Auftritt eher zelebriert als spontan natürlich wirkt – nicht zuletzt deshalb, weil er vorwiegend auf schriftlichen Quellen basiert und man auch damals schon anders schrieb als redete –, aber doch Erfahrungswege öffnen könnte, „J. S. Bach live im Konzert“ und Ähnliches künftig freier und souveräner zu gestalten.

Außerdem korrigierte sich, wenn man Gelegenheit hatte, länger vor Ort zu verweilen, manche Eigenheit von selbst. So war die ausgesprochen charmante Programmansage der vorjährigen Bach-Preisträgerin Lara Morger ein heiter-versöhnlicher Kontrapunkt zum schmalzig-langatmigen Publikums-Angeduze des „Spark“-Moderators. Gesungen hat die junge Altistin ihre Matinee dann ebenfalls gut: rundstimmig, leidenschaftlich, rhetorisch noch entwicklungsfähig. Die Programmfolge reichte von Bach bis Berg und schloss eine eindrucksvolle, selbst wiederentdeckte Lied-Anthologie der Irin Mary Dickenson-Auner (1880 bis 1965) ein; Morgers einfühlsamer Partner Anthony Romaniuk wechselte flink und gewandt zwischen drei Tasteninstrumenten – auch ein Aspekt des Transformations-Gedankens wie die ähnlich unkonventionelle Zusammenstellung, mit der sich der Gambist Thomas Fritzsch und Michael Schönheit als Begleiter verschiedenen Gamben-Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts bis zu Liszt widmeten.

Benjamin Alard am CembaloBenjamin Alard am CembaloGert Mothes

Bach pur und sogar puristisch blieb allerdings auch diesmal die erste Wahl und das ungetrübteste Vergnügen. Was Benjamin Alard unter anderem mit zwei der französischen Suiten an Feuer, sprühender Eleganz und vor allem kristalliner struktureller Klarheit aus einem schlichten zweimanualigen Cembalo hervorzauberte, war phantastisch. Unter den großen Abendkonzerten des ersten Festwochenendes dürften, mehr noch als eine gediegene, im zweiten Teil zunehmend innerlich befreite und damit ergreifende Johannes-Passion mit den von Andrea Marcon geleiteten „La Cetra“-Ensembles aus Basel, vor allem die beiden Kantatenabende unter John Eliot Gardiner in Erinnerung bleiben. Der Brite, der sich vor zwei Jahren nach einem Ohrfeigen-Skandal von seinen langjährigen Ensemble-Partnern trennte, trat nun im Zeichen von Läuterung und Neubeginn erstmals wieder in Leipzig auf – nach diesen Begegnungen darf man sagen: beglückender Weise.

Analog zur legendären Bach-Pilgrim­age-Tour des Jahres 2000 folgte er den Spuren des Thomaskantors auch mit seinen neuen Ensembles – „Constellation Choir & Orchestra“ – anhand der liturgischen Ordnung, die zum Beispiel für den 16. Sonntag nach Trinitatis in besonderer Dichte Texte elegischen Weltüberdrusses und Todesverlangens abruft. Mit welcher schmerzlich süßen Innigkeit dabei die auch später immer wieder eindringlichen Holzbläser gleich in die einleitende der vier Kantaten – „Liebster Gott, wann werd ich sterben“ (BWV 8) hineinführten, wie sich die Solisten – voran Thomas Hobbs’ ins Mystische greifender, selbst in den rhythmischen Verstrickungen des „Ach, schlage doch bald“ aus BWV 95 unbeirrbar leicht geführter Tenor – mit stiller Leidenschaft in ihre Erlösungsvisionen knieten und bei allen Kontrastsetzungen zwischen kribbelig zuckendem „Weltgetümmel“ und fahl-bleicher Todessicht ein Grundton sehnsüchtiger Entrücktheit den ganzen Abend durchzog; wie dabei selbst die eigentlich heikle, dämpfig-hallige Thomaskirchakustik zum „Mitspielen“ gebracht wurde: Es war einfach große, zu Herzen gehende Kunst ohne Wenn und Aber.

Gesamten Artikel lesen