Eine Verstellung natürlich auch dies: der protzig vor sich hergetragene Anspruch, die Dinge endlich auch mal unverstellt zu sehen. Zeigen sich die Dinge in Gaza, das unermessliche Leid dort, denn unverstellt, wenn man die Bilder des Grauens einblendet und Martin Huber, den Generalsekretär der CSU, fragt: „Ist das gerechtfertigt?“ Lanz kann diese Frage vielleicht an Gott adressieren und mit Theologen und Philosophen das Theodizee-Problem besprechen: Wie kann es einen guten und allmächtigen Gott geben, wenn man diese Bilder des Grauens sieht?
Aber Huber ist nicht Gott. Warum um Gottes willen meint Lanz, an der unverstellten Wahrheit zu rühren, wenn er einen Mann wie Huber fragt: „Ist das gerechtfertigt?“ Hat Huber es zu verantworten, wenn die Dinge politisch komplizierter sind, als es eine vermeintlich klare Berufung auf Recht und Moral wahrhaben möchte, wie Lanz sie für den Nahostkonflikt in diesem Moment penetrant nahelegt (im nächsten Moment schon nicht mehr, wenn es im Gespräch mit den anderen Gästen um nüchterne politische Analyse geht).
Lanz versteht sich als politisch-moralischen Mitdiskutanten
Huber grillen, weil es Widersprüchliches zwischen CDU und CSU im Verhältnis zu Israel gibt? Dass es keine „Zwangssolidarisierung“ mit Israel geben dürfe, dieses sein Wort hat Außenminister Johann Wadephul ja dann mehr oder weniger als Ausrutscher kassiert. Derweil hat die CSU ohne Wenn und Aber auf Israels Existenzrecht inmitten von eben dies bedrohenden Mächten beharrt. Geradezu inbrünstig zelebriert Lanz dieses: Der eine redet hier so, der nächste wiederum anders, der dritte schweigt. Ja, eine große Verstellung ist politisch unterwegs. Und stille Wasser sind nicht immer tief, sondern gelegentlich einfach auch nur dämlich. Ist es das, was wir bei Lanz lernen sollen? Schaut man da nicht lieber den Horrorfilm im Parallelprogramm? Wer wüsste nicht, dass Politik von ihren Verkrampfungen lebt, von ihren unausgetragenen Widersprüchen, unerfüllten Versprechen, die heute diese Ausprägung haben, morgen schon wieder jene?
Trotz der jüngsten Niederlage vor Gericht: Huber bemüht diesbezüglich abermals das etwas freche Argument der Einzelfallentscheidung. Und beharrt darauf, dass die Bundesregierung nicht wie zugesagt gefährdete, momentan in Pakistan ausharrende Afghanen nach Deutschland holt. „Für uns ist klar, diese freiwilligen Aufnahmeprogramme müssen gestoppt werden“, so Huber. „Weiß das Ihr Außenminister?“, fragt Lanz zurück. Davon gehe er aus, erwidert Huber. Klar, kann man auch hier wieder reingrätschen (muss es sicher auch) und diesmal also Huber versenken spielen („Weil Sie gerade hier sind, Herr Huber“). Aber lohnt die Emphase, die Echauffierung, mit der Lanz Abend für Abend seine Ordnungsrufe verteilt, sich selbst nicht nur als Moderator, sondern immer auch als politisch-moralischen Mitdiskutanten begreifend?
Maske runter, Huber!
So geht es weiter mit dem Spiel: Maske runter, Huber! Jetzt diesen CSU-Mann erst mal wegen seiner dürftigen Sprachregelungen in Verlegenheit bringen, mit denen er angesichts der eingespielten Gaza-Bilder die Spannung zwischen Politik und Moral aufrecht zu erhalten versucht. Lanz fragt Huber (!), ob es bei den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt, in Gaza zumal, denn wirklich auch ohne moralischen Kompass gehe, im Echoraum klingt „Ist das gerechtfertigt?“ nach. Huber sagt dann so Sachen wie: „Es ist auf alle Fälle sehr zu bedauern und lässt auch keinen kalt.“ Immerhin macht er auch „unermessliches menschliches Leid“ namhaft. Lanz, am Ziel seiner Investigation angelangt, zupft seinen grünen Schlips zurecht und wiederholt verächtlich das Wort „bedauern“.
Von welcher Warte aus sich Lanz hier gewohnt draufgängerisch erhebt, bleibt unklar. Als habe allein er, Lanz, die bislang achtzigtausend Toten in Gaza im Blick. Und als sei Huber die Friedensbremse in Nahost. Was für eine Fehlinszenierung der Fragen auf Leben und Tod, sie derart okkasionell grell anzuleuchten und dann gleich wieder abzublenden, wenn Lanz der Abteilung „Reflexion“ das Wort erteilt: der Journalistin Anna Lehmann, dem Migrationsexperten Gerald Knaus, dem Journalisten Frederik Pleitgen. Die können unter sich die Vernünftigkeit ausmachen. Da ist Huber dann weitgehend abgemeldet. Man versteht: Als Adressat der Frage, ob die Gewalt in der Welt gerechtfertigt sei, hat er seine Schuldigkeit getan.
Am unauffälligsten verstellt sich der Moderator selbst
Gelegentlich kommt Lanz aus dem Tritt. Dann legt er sich zu früh mit Aussagen fest, die er nach dem nächsten Redebeitrag schon wieder berichtigen möchte. „Das war auch das, was ich dachte“, sagt Lanz, als Knaus findet, es sei für Trump wahrscheinlich kontraproduktiv, dass es Benjamin Netanjahu war, der ihn soeben für den Friedenspreis vorgeschlagen hatte. Die Norweger seien auf Gerichtsbarkeiten ausgerichtet, vor denen sowohl Trump als auch Netanjahu (vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht) nicht die beste Figur machten. Auch Lehmann („Ich glaube, dass das Komitee noch andere Vorschläge prüft“) sah das letztlich so.
Da eben sagte Lanz sein „Das war auch das, was ich dachte.“ Wenn nicht gedacht, so hatte er doch kurz zuvor gesagt, Trump habe friedenspolitisch ja durchaus das eine oder andere erreicht, das müsse man auch mal anerkennen, statt hämisch drüber wegzugehen, „finde ich“. Wie gesagt, kurz darauf fand Lanz dann schon wieder anderes. Wer verstellt sich in seiner Sendung am unauffälligsten? Richtig, der Moderator selbst.