Beddau ist ein beschaulicher Ort im Süden von Wales mit wenigen Tausend Einwohnern. Die Menschen dort glauben, einander zu kennen und vertrauen zu können. Das dachte auch Michelle James, Mieterin in einem Mehrfamilienhaus, als sie im November 2015 im Hinterhof ein großes Paket entdeckte. Sie ging davon aus, es handele sich um das entsorgte medizinische Skelett, das die kürzlich verstorbene Nachbarin Leigh Sabine aufbewahrt und von dem diese immer wieder freudig erzählt hatte. Gemeinsam mit ihrer Freundin Rhian Lee wollte Michelle James dieses Skelett für einen Streich verwenden. Als die beiden Frauen die aus mehreren Plastikschichten bestehende Verpackung aufschneiden, tritt allerdings eine schleimige Flüssigkeit aus. Sie stoßen auf verfilztes Haar. Michelle James und Rhian Lee haben eine echte Leiche entdeckt. Dieser Fund versetzt Beddau in Aufruhr.
Atemraubende Kriminalgeschichte
Wer ist der Tote? Und wer hat den Mann umgebracht? In drei Teilen erzählt die Dokumentation „Der Tote von nebenan“ von Gareth Johnson eine atemraubenden Kriminalgeschichte, die die Menschen weit über die walisischen Grenzen schockierte und deren Verästelungen bis nach Neuseeland führen.
Die mit mehr als vierzig Plastikplanen umwickelte Leiche war erstaunlich gut erhalten, weshalb die Ermittler irrtümlich davon ausgingen, dass der Mann noch nicht lange tot gewesen sein könne, wobei man sich fragt, ob die Gerichtsmedizin hier schlicht einen schlechten Job machte. Es dauert eine Weile, bis sie die kurz zuvor mit 74 Jahren an Krebs verstorbene Leigh Sabine unter die Lupe nehmen. Nachbarn und Bekannte beschreiben sie als exzentrische, männertolle Person mit einer großen Lust an der Inszenierung. Selbst kurz vor ihrem Tod, erzählt eine Freundin, wollte sie noch ihren Onkologen küssen.
Fotos zeigen eine blond gelockte, sehr selbstbewusst wirkende Frau, und man bildet sich sofort ein, in ihren Augen etwas Abgründiges zu entdecken. Leigh Sabine selbst beschreibt ihre Vergangenheit als schillernd. Eine erfolgreiche, viel gereiste Kabarettsängerin will sie gewesen sein. Gegenüber Freunden spricht sie auch davon, früher Hunde gezüchtet zu haben. Ihr Repertoire an Geschichten, das legen die in der Dokumentation Befragten nahe, schien unerschöpflich gewesen zu sein. Verheiratet war sie ebenfalls, und zwar mit einem Mann namens John. Gemeinsam zogen sie 1997 in das Apartment. Doch John, so erzählte es Leigh Sabine allen in Beddau, habe sie wegen einer anderen Frau verlassen. Nach und nach entsteht das Bild einer Person, der man bald jedes dunkle Geheimnis zutraut. Es ist keine große Überraschung, dass Leigh Sabine sogar Mutter ist – von fünf Kindern, die sie in Neuseeland zurückließ.
Gareth Johnson gelingt es, mit dreien dieser Kinder zu sprechen. Die Dokumentation, die als rätselhafter Kriminalfall beginnt, weitet sich zu einer Familientragödie. Der Mord an ihrem Ehemann, mit dessen vakuumierter Leiche Leigh Sabine knapp zwanzig Jahre in der Wohnung lebte, ist nur ein Puzzlestück. Mit jedem weiteren fügt Johnson der Geschichte eine neue Facette der Grausamkeit hinzu. Dadurch entfaltet die Dokumentation ihren ungewöhnlichen Sog. Johnson erzählt sie im Stil eines Thrillers. Vor die Kamera in Neuseeland treten Leigh Sabines Töchter Lee-Anne und Jane sowie ihr Sohn Steve. Es sind erschütternde Szenen, die zeigen, wie sehr der Verrat der Eltern die traumatisierten Kinder bis heute schmerzt.

Leigh Sabine und John setzten ihre fünf Kinder 1969 in einer Tagesstätte in Auckland, Neuseeland ab und verabschiedeten sich mit dem Versprechen, sie bald wieder abzuholen. In Wahrheit machten sie sich aus dem Staub, nach Australien, wo Leigh Sabine als Sängerin Karriere machen wollte. Die Kinder standen täglich am Zaun, hielten Ausschau nach den geliebten Eltern, lauschten jedem Flugzeug und Auto nach. Aber die Eltern kamen nicht zurück. Steve, der das Unfassbare nicht verwinden kann, fragt sich noch heute: „Haben wir irgendetwas falsch gemacht?“ Nach 15 Monaten spürte die Presse die Eltern damals in Perth auf, zur Familienzusammenführung kam es nicht. Die Kinder wohnten in Heimen und bei Pflegeeltern, sie erfuhren keine Liebe, keine Zuneigung, es kam zu Missbrauch und seelischen Quälereien. Einmal, erzählt Jane, eine dünne Frau mit einem von Falten zerfurchten Gesicht, habe ein Pflegevater ihr in der Garage einen Hammer in die Hand gedrückt, mit dem sie ihre beiden Mäuse erschlagen sollte. Sie brachte es nicht übers Herz. Ihr Bruder tötete schließlich die Tiere.
Durch das Zusammenspiel historischer Aufnahmen – darunter Material australischer Fernsehanstalten, die seinerzeit über die geflohenen Eltern berichteten –, nachgestellter Szenen und Interviews schafft der Regisseur Gareth Johnson von Beginn an eine beklemmende Atmosphäre. Man wünscht sich im Laufe der drei Teile immer sehnlicher, die kaltblütige und moralisch verwahrloste Leigh Sabine möge nicht noch mehr Abscheulichkeiten auf Lager haben, doch bis zur letzten Minute gibt es keine Gnade.
Der Tote von nebenan läuft am Mittwoch um 20.15 Uhr bei ZDFinfo und in der Mediathek.