Tour de France: Willkommen bei den Sch'tis!

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Das Peloton fuhr weitgehend geschlossen die dritte Etappe ab

Das Peloton fuhr weitgehend geschlossen die dritte Etappe ab

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Loic Venance / AFP

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Ein bitterer Moment: Diese dritte Etappe plätscherte mehr als 100 Kilometer vor sich hin, das Feld entspannte sich. Dann kam es 55 Kilometer vor dem Ziel zum Zwischensprint. Jasper Philipsen, der Sprinterkönig im Feld, Gewinner der ersten Etappe und Träger des Grünen Trikots, wollte sich wichtige Punkte holen, kollidierte mit einem Konkurrenten, kam zu Fall und knallte auf die Schulter. Zehn Toursiege hat Philipsen in seiner Karriere schon eingeheimst, 2025 wird keiner mehr dazukommen. Die Tour de France dieses Jahres ist für ihn zu Ende. Eine Sekunde, und alle monatelangen Mühen der Vorbereitung sind vergebens.

Tagessieger Tim Merlier

Tagessieger Tim Merlier

Foto: David Pintens / Belga / IMAGO

Die dritte Etappe: Über 178 Kilometer ging es von Valenciennes nach Dunkerque an den Ärmelkanal, immer noch hoch in Frankreichs Norden, nah der belgischen Grenze. Eine Etappe flach wie eine französische Galette. Alle erwarteten einen Massensprint, alle bekamen ihren Massensprint. Es siegte der Belgier Tim Merlier. Und wie es so häufig kommt, wenn es vorher so tückisch ruhig zuging: Auf den letzten Kilometern gab es heftige Stürze. Verwickelt darin war unter anderem Remco Evenepoel, einer der Podiumsanwärter.

Flach ging es zu bei der dritten Etappe

Flach ging es zu bei der dritten Etappe

Foto: David Pintens / Belga / IMAGO

Land und Leute: Im Startort Valenciennes wurde Pierre Richard geboren, der große Blonde mit dem schwarzen Schuh, aber weit mehr gibt es über den Zielort Dunkerque, für die Deutsch-Fraktion Dünkirchen, zu sagen. Eine Stadt, die auf ewig mit dem Weltkrieg in Verbindung steht, nachdem die Engländer ihr Expeditionskorps im Juni 1940 vor den heranrückenden Nazitruppen in Sicherheit gebracht haben. Eine wichtige Operation im Hinblick auf den späteren Kriegsverlauf, sie trug den Namen Operation Dynamo – und damit ist die Verbindung zum Radfahren wieder hergestellt. Sehenswert in der Küstenstadt ist der Turm mit dem schönen Titel »Tour de Leughenaer«, der Turm der Lügner. Tour de Leughenaer, das hätte sehr gut zur Dopingzeit gepasst.

Das falsche Trikot: Zweimal hat Tadej Pogačar, der Topfavorit dieser Tour, die Bergwertung der Tour de France bereits für sich entschieden.In beiden Fällen gewann er in jenen Jahren allerdings auch die Gesamtwertung und war daher am Ende immer der Mann im Gelben Trikot. Das berühmte Bergtrikot mit den roten Punkten, das in diesem Jahr 50 Jahre alt wird, hat der vierfache Gesamtsieger dagegen bisher erst einen Tag lang getragen. Am Montag trug er es zum zweiten Mal – man hatte dennoch das Gefühl, dass der Slowene sich morgens beim Griff in den Kleiderschrank vergriffen hat. Er ist der geborene Mann für Gelb. Am Ende des Tages war er das Punkte-Trikot ohnehin schon wieder los: an den Belgier Tim Wellens.

Tadej Pogačar im ungewohnten gepunkteten Bergtrikot

Tadej Pogačar im ungewohnten gepunkteten Bergtrikot

Foto: David Pintens / Belga / IMAGO

Die Sch'tis: Kurz vor Dunkerque durchquerte das Peloton den Ort Bergues, die Stadt, in der die Dreharbeiten für den Wohlfühlfilm »Willkommen bei den Sch'tis« stattfanden. Seitdem kommen die Touristen nach Bergues und staunen das Glockenspiel an. 2,3 Millionen Kinobesucher in Deutschland kennen daraus den Satz: »Wenn ein Südländer in den Norden zieht, weint er zweimal. Einmal bei der Ankunft und einmal, wenn er wieder abfährt.« Aber nicht nur Filmkitsch kommt aus der Region. Auch der große Louis Malle kommt aus der Gegend. Dringend mal wieder »Zazie« gucken!

Guten Appetit: Dunkerque ist eine Karnevalshochburg. Aber hier werden nicht Kamelle in die Menge geworfen, sondern Craquelots. Das sind geräucherte Heringe. Die mittlerweile allerdings in Plastikfolie eingeschweißt geworfen werden, damit sich das Volk nicht immer die Kostüme vollkleckert. Süßere Geschmäcker erfreuen sich am Mandelkuchen Doigts de Jean Bart, benannt nach dem berühmten Seeräuber Jean Bart, einem Sohn der Stadt, dem sogar Fontane eine Ballade widmete: »Wie stolz das britische Banner auch weh', Jan Bart ist Herr und fegt die See.«

Das Peloton auf der Strecke, mit dem Wind als Begleiter

Das Peloton auf der Strecke, mit dem Wind als Begleiter

Foto: Christophe Petit Tesson / EPA

Kindermund: Da so eine Liveübertragung einer Etappe ziemlich lange dauern kann und Zeit überbrückt werden muss, appelliert ARD-Livekommentator Florian Naß täglich mit einem zuckersüßen »Liebe Kinder«, wie man es seit den Zeiten von Lolek & Bolek und dem Hasen Cäsar in den Siebzigern im Fernsehen nicht mehr gehört hat, an die Kinder vor den Bildschirmen, Videos mit Live-Reportagen einzuschicken. Falls Topfavoit Pogačar die Tour früh für sich entscheiden sollte, bleibt dann immerhin noch als Spannungsmoment: Wer macht es besser? Der kleine Pascal aus dem Saarland oder die kleine Mariella aus Vorpommern oder der große Florian vom Hessischen Rundfunk?

Radsport-Tradition: Zielort Dunkerque ist eine alte Radsportstadt. Das Etappenrennen »Vier Tage von Dünkirchen« wird bereits seit 1955 ausgetragen, berühmte Radsport-Namen stehen auf der Siegerliste: Roger De Vlaeminck, Johan Museeuw, Charly Mottet und als bisher einziger deutscher Gewinner: Olaf Ludwig.

Erkenntnis der Etappe: So ist die Tour de France eben: Stundenlang passiert manchmal gar nichts. Kinder-Videos und Gastrotipps von der ARD. Und dann plötzlich ist es geschehen. Jasper Philipsen wird diese Etappe nicht vergessen.

So geht es weiter: Am Dienstag hüpft das Herz jedes Tourismus-Werbers wieder hoch. Von Amiens mit der berühmten Kathedrale geht es über 173 Kilometer nach Rouen mit der nicht minder berühmten Kathedrale. Frankreichs Norden ist Kathedralen-Land. Die Profis werden dafür kaum einen Blick haben, die Etappe wird schwer. Hügelig und windig zugleich. Inklusive steiler Rampen kurz vorm Ziel. Unangenehm.

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