
Solaranlagen in einer Wohnsiedlung in München: »Wir müssen das System reformieren«
Foto: Maryana Serdynska / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Auf den meisten Stromrechnungen in Deutschland ist ein Kostenblock in den vergangenen Jahren deutlich größer geworden: die Netzentgelte, also die Gebühren, die man dafür zahlt, dass der Strom von den großen Übertragungsleitungen über die Verteilnetze bis ins Haus gelangt. Voriges Jahr zahlten Haushalte im Schnitt 11,6 Cent Netzentgelt pro Kilowattstunde (kWh), berichtet die Bundesnetzagentur, das ist mehr als ein Viertel des gesamten Strompreises. Zum Vergleich: 2021 waren es »nur« 7,5 Cent.
Der milliardenteure Ausbau der Stromnetze ließ die Gebühren steigen ; hinzu kommen die Kosten von Netzengpässen und Reservekraftwerken, die sich für Ausnahmefälle im Stromsystem bereithalten.
Doch nun steht das System der Netzentgelte vor weitreichenden Veränderungen. Das liegt nicht nur an der neuen Bundesregierung, die angekündigt hat, die Netzentgelte »dauerhaft zu deckeln«. Sondern auch an der Bundesnetzagentur, die an diesem Montag ein Verfahren eröffnet hat, um einen völlig neuen Rahmen für die Netzgebühren festzulegen. »Wir müssen das System reformieren, nach dem Netzentgelte erhoben werden«, sagt Behördenchef Klaus Müller.
Immer weniger zahlen den vollen Preis
Konkret stört Müller zum Beispiel, dass Netzentgelte bislang pro kWh Strom fällig werden, die man aus dem Netz bezieht – zuzüglich eines Grundpreises, der unabhängig davon anfällt. Wer hingegen eine Solaranlage auf dem Dach hat, womöglich in Kombination mit einem Batteriespeicher im Keller, benötigt an vielen Tagen nur wenig Strom aus dem Netz – und zahlt somit weniger Gebühren. An sonnenreichen Tagen speisen solche Haushalte ihre Überschüsse jedoch munter ins Netz ein. Und wenn ihre Solaranlage mal nicht liefert, sind sie froh, den Netzanschluss in der Hinterhand zu haben.
Die Bundesnetzagentur sieht hier Reformbedarf. Die Zahl der Nutzer, die in voller Höhe Netzentgelte zahlen, werde »immer kleiner«, klagt Müller, »bei gleichzeitig steigenden Kosten«. Dabei sei gerade der Ausbau der erneuerbaren Energien »wesentlicher Treiber der Kosten im Netz«, so die Behörde.
Müller erwägt daher, künftig nicht nur für die Entnahme, sondern auch für die Einspeisung Netzentgelte zu verlangen. »So würden die Kosten auf mehr Schultern verteilt«, argumentiert die Bundesnetzagentur. Bei Gasfernleitungen und in anderen europäischen Staaten gebe es längst Netzgebühren für die Einspeisung. Allerdings wären diese ein neuer Kostenblock für alle möglichen Stromerzeuger.
Alternativ denkt die Behörde über ein »Grundnetzentgelt« nach, das sowohl Verbraucher als auch Einspeiser entrichten müssten. Oder über einen »Kapazitätspreis«, den man für die Kapazität des eigenen Netzanschlusses zahlen müsste – egal, in welche Richtung der Strom fließt.
Die neue Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) hatte sich, als sie noch Chefin der E.on-Tochterfirma Westenergie war, ähnlich positioniert: Kleine Solaranlagen brächten »einigen wenigen« Vorteile, aber die Folgekosten – etwa für den Anschluss ans Netz – würden der Allgemeinheit aufgebürdet, kritisierte Reiche im Februar auf dem Podium einer Fachmesse. »Hier braucht es eine Korrektur.« So gesehen haben die Reformpläne auch eine sozialpolitische Dimension.
Strom nutzen, wenn das Angebot hoch ist
Die Bundesnetzagentur denkt mit ihrem Diskussionspapier indes noch weiter. So biete das System der Netzentgelte bislang auch »keine Anreize, die flexibles Verhalten belohnen«, moniert Behördenchef Müller, »eher im Gegenteil«.
Ein Gegenmodell sind sogenannte dynamische Netzentgelte, die je nach Lage im örtlichen Netz unterschiedlich sind. Sie können etwa abends hoch sein, wenn das Netz stark belastet ist, dafür nachts besonders niedrig. Dynamische Strompreise und Entgelte können zum Beispiel Besitzern von Elektroautos einen Anreiz geben, ihre Batterien dann zu laden, wenn dies für das Netz opportun ist. Ein Kompromissmodell sind zeitvariable Netzentgelte; das bedeutet, dass teure und billige Stunden schon lange vorher feststehen.

Strommast in Köln: Dass es beim Status quo bleiben könnte, scheint unwahrscheinlich
Foto: Christoph Hardt / Panama Pictures / picture allianceBislang gibt es dynamische und zeitvariable Netzentgelte hierzulande als Angebot für Haushalte mit sogenannten steuerbaren Verbrauchseinrichtungen – also etwa Wärmepumpen oder Wallboxen für E-Autos, die für den Netzbetreiber im Zweifelsfall steuerbar sind, wenn sonst Überlastungen oder Stromausfälle drohen würden. Als Dankeschön für die Steuerbarkeit können die Besitzer auf dynamische oder zeitvariable Netzentgelte zurückgreifen.
Doch es wird dauern, bis solche intelligenten Preise in der Fläche ankommen können. Denn die Voraussetzung sind intelligente Messsysteme, sogenannte Smart Meter, die den Stromverbrauch mit genauen Uhrzeiten an die Netzbetreiber übermitteln. Ende 2024 hatten erst gut zwei Prozent aller Verbraucher deutschlandweit einen Smart Meter, berichtet die Bundesnetzagentur. Damit hinkt die Republik im internationalen Vergleich hinterher.
Streit um Milliardenrabatte für die Industrie
Die Bundesnetzagentur will nun »ergebnisoffen« diskutieren, wie sie den Rahmen für die Netzgebühren genau reformieren wird, und erwartet bis Ende Juni Stellungnahmen zu dem Diskussionspapier. Seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2021 hat die Behörde formal große Freiräume, die Stromnetzentgelte unabhängig von der Regierung zu regulieren. Ein neuer Rahmen könnte bis Ende 2026 stehen, hofft man in Bonn.
Dass es beim Status quo bleiben könnte, scheint unwahrscheinlich: »Unser Ziel ist es, die Netzentgeltsystematik zukunftsfähig zu machen und an die Herausforderungen der Energiewende anzupassen«, so Klaus Müller.
Wenn der Präsident der Bundesnetzagentur betont, dass immer weniger Nutzer in voller Höhe Netzentgelte zahlen, und Anreize zum flexiblen Verhalten fehlen, stellt sich allerdings auch die Frage, wie es mit den milliardenschweren Rabatten weitergeht, die große Unternehmen auf die Netzgebühren bekommen: Betriebe, die besonders viel Strom brauchen oder eine konstant gleichbleibende Menge abnehmen, dürfen individuelle Entgelte mit ihrem Netzbetreiber vereinbaren. Die Kosten dafür tragen alle anderen Verbraucher über eine Umlage, die derzeit gut 0,6 Cent je kWh beträgt.
Müllers Behörde hatte bereits im Juli 2024 Eckpunkte für eine Reform dieser Rabatte vorgelegt. Demnach sollen Firmen künftig niedrige Netzentgelte zahlen, wenn sie in Phasen mit hohem Stromangebot mehr verbrauchen – und in knappen Stunden weniger. Doch energieintensive Unternehmen laufen Sturm gegen die Reform. Auch die neue Bundesregierung will Betriebe »ohne Flexibilisierungspotenzial wie bisher« entlasten, heißt es im Koalitionsvertrag.
Daher wertet die Bundesnetzagentur noch immer Stellungnahmen zu ihren Eckpunkten aus. Einen Entwurf für eine Festlegung gibt es bisher nicht. Das Beispiel der Industrierabatte zeigt, wie komplex es ist, Netzentgelte zu reformieren.