Überall Kristalle. Zunächst die kleinen, meist kantigen Steine, die verführerisch glitzern: das Crystal Meth, das Jenny (Emma Nova) sich gemeinsam mit ihrem Freund Bolle (Paul Wollin) kleingebröselt in die Nase zieht, seit Jahren schon, gegen äußere Stimmen, etwa ihrer Mutter, die sich um ihren Sohn Lukas kümmert, oder des Jugendamts. Und dann die Materialien, die für das andere stehen: Auf Jennys Wange glitzert ein gepiercter Schmuckstein, die junge Frau klebt Glimmerstaub auf ihre geliebten Orchideen und bewahrt im Eisfach den Schneeball auf, den Lukas beim Mama-Besuch gleich auspackt und auf dem Balkon der Plattenbausiedlung präsentiert: „Ich hab ’nen Schneeball im Sommer und ihr nicht!“
Jenny, angeklebte Wimpern, lange künstliche Fingernägel und Tattoos, und doch in „Vena“ alles andere als das, was in eine Vorurteilsschublade passt, kann sich nicht um den in die Schule kommenden Sohn kümmern und ist wieder schwanger. In der ersten Szene sitzt sie mit Bolle auf der Couch und sucht im Lieblingsvideospiel nach passenden Namen. „Hallo Lexa, meine kleine Superheldin“, freut sich Bolle und streichelt ihren Bauch, bevor Jenny auf dem Balkon eine raucht. Die beiden lieben sich, und der Film findet für diese drogeninduzierte, mit Blick auf die Schwangerschaft auch toxische Beziehung zarte Bilder, wenn Bolle ihr an ihrem „Königinnentag“ neue Nägel spendiert oder die beiden gleich nach der Crystal-Line Sex haben. Weil Jenny eine Haftstrafe antreten muss, bemüht sie sich mehr schlecht als recht um einen der wenigen Mutter-Kind-Plätze in der JVA.
Ungeschützt und total menschlich
Hier in der Platte, im sozialrealistischen Problemfilmsetting, das im deutschen Kino gerne bemüht wird, könnte alles Klischee sein, ist es in „Vena“ aber nicht. Alles lebt und vibriert, wird mit unverstelltem, wertfreiem und empathischem Blick gezeigt, der auch Schönes findet, aber nichts beschönigt. Die 31 Jahre alte Regisseurin Chiara Fleischhacker, die heute mit ihrer Tochter in Erfurt lebt, hat ihr Langfilmdebüt, der zugleich ihr Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg ist, mit großer Souveränität geschrieben und inszeniert. Bei den First Steps Awards, einem der wichtigsten deutschen Nachwuchsfilmpreise, wurde „Vena“ doppelt prämiert: als „bester abendfüllender Spielfilm“ und in der Auszeichnung der Kamerafrau Lisa Jilg mit dem Michael-Ballhaus-Preis.
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Jilgs naturalistisch-poetische Bilder holen Jenny, phänomenal authentisch zwischen Verzweiflung, Lebenslust und Wut von Nova verkörpert, immer wieder nah heran. Man möchte sie zwischendurch schütteln, wenn sie auf Drogen zu hämmernden Technobeats die Dusche schrubbt, wenn sie Kippe um Kippe raucht und den Aschenbecher auf dem wachsenden Babybauch parkt. „Dein Körper ist ein Chemielabor und keine Naturweide, meine Liebe“, sagt ihr eine Frauenärztin. Jenny ist alles andere als eine Heldin, die um die Gunst des Publikums buhlt, und doch ist man bei ihr, die in ihrer fahrlässigen Unvernunft, in ihrer Unsicherheit und ihrer Liebe für den Sohn so ungeschützt total menschlich ist.
Mütter werden neu erzählt
Der Filmtitel ist ein sprechender, denn über die Vena umbilicalis, die Nabelschnurvene, wird der Fötus mit sauerstoffreichem Blut und Nährstoffen versorgt, mit allem Guten, aber auch mit allem Schlechten. Jennys Ambivalenz gegenüber ihrer Schwangerschaft nimmt eine neue Richtung, als sie auf Familienhebamme Marla (Friederike Becht) trifft. „Ich arbeite unabhängig vom Jugendamt. Alles, was hier passiert, bleibt hier“, beruhigt Letztere die skeptische Mutter und begegnet ihr, anders als die Behörden aus dem Gesundheits- und Sozialsystem, mit einer nicht urteilenden Offenheit. Als Jenny versucht, von den Drogen wegzukommen, wird Marla zu ihrer wichtigsten Bezugsperson. Fleischhacker erzählt von der leisen Annäherung der beiden Frauen mit großer Sensibilität.
Mit seiner kantigen Hauptfigur ist „Vena“ ein weiterer Beitrag in diesem Jahr zu einer Produktionsreihe, in der Mütter im deutschen Kino neu erzählt werden. Zuletzt schlurfte, rannte und eskalierte Lilith Stangenberg als werdende Mutter, die ihr aus einer Affäre hervorgegangenes Kind zur Adoption freigibt, in Kida Khodr Ramadans „Haltlos“ durch Berlin – der Titel ist auf allen Ebenen Programm. In Andreas Dresens „In Liebe, Eure Hilde“ über den Widerstand der „Roten Kapelle“ brachte Liv Lisa Fries in der Rolle der Hilde Coppi ihr Kind im Gefängnis zur Welt.
Eine echte Geburt
Eine Geburt in Haft spielt auch in „Vena“ eine Rolle, in einer Szene für die Kinogeschichtsbücher. Kino und Realität berühren sich hier, denn Fleischhacker durfte eine echte Geburt filmen und hat diese geschickt in ihren Film montiert. Ihr sei es darum gegangen, so Fleischhacker im Presseheft, die Schönheit und Wucht einer Geburt, die sie bei ihrer Tochter erlebt hatte, einzufangen. Derart natürlich und selbstverständlich war eine Niederkunft jedenfalls selten auf der Leinwand zu sehen: ein kinematographisches Statement in diesem Film, der, ausgehend von einem zarten bis harten Milieuporträt, herauszoomt und den Blick weitet.
Mit großer Authentizität erzählt „Vena“ von Drogensucht und -entzug, von Liebe, von Frauenbünden und systemisch-behördlichen Mühlen. Ein Bild der Haftbedingungen von werdenden Müttern haben sich die Regisseurin und ihr Team in verschiedenen Frauen-Justizvollzugsanstalten gemacht und in Gesprächen mit Frauen, die während ihrer Haftstrafen entbunden haben. Ganz bewusst löst der Film Diskussionen darüber aus, ob Kinder in Haft aufwachsen sollten. Fleischhacker gibt keine finale Antwort darauf, zeigt aber zugleich, und klagt an, wie schwer es werdende Mütter im Gefängnis haben. „So blöd das klingen mag: Das ist auch das System“, sagt ein Mitarbeiter des Sozialdienstes etwas flapsig, trifft damit aber einen Kern.
Fleischhackers Film ist ein Statement für eine erzählende Zugewandtheit auch in scheinbar ausweglosen Situationen. Und trotz Drastik lässt „Vena“ Hoffnung zu, wenn eine Kristallkugel im Fenster die Sonnenstrahlen einfängt und die Lichtpunkte auf den Wänden tanzen.