Es ist kein verwegener Gedanke, die Wurzeln der Pop-Art zurück bis in die Zeit des Dada zu verfolgen. Genau genommen ist er nicht einmal originell. Denn von den Collagen aus Etiketten der Lebensmittelindustrie bis zu Wortbildern wie „Pow“ und „Bumm“ lässt sich in den Zwanzigerjahren kunsthistorisch vieles von dem verorten, was in den Sechzigern mal zu knallbuntem Frohsinn, mal zu makabren Späßen führte.
Aber das Grinsen hätte man dennoch gerne gesehen, das über das Gesicht des Pariser Kurators der Tom-Wesselmann-Ausstellung gehuscht sein muss, als er auf die Idee kam, sie mit dem von Marcel Duchamps „Fontaine“ genanntem Pissoir zu beginnen, geradeso, als führte jenes Ready-Made in gerader Linie in die Badezimmer von Wesselmann, in denen sich gemalte nackte Damen vor gekachelter Wand samt echter Klobrille die Füße abtrocknen oder ihre Beine lasziv über den Wannenrand strecken.
Eine Flut von Brüsten und Brustwarzen an der Grenze zur Manie
Fast ein Dutzend Säle der Fondation Louis Vuitton füllt „Pop Forever: Tom Wesselmann & …“, zum kleineren Teil mit Arbeiten von 35 Künstlern von Kurt Schwitters und Hannah Höch über Claes Oldenburg und Roy Lichtenstein bis Jeff Koons und Ai Weiwei, zum größeren mit Wesselmann, von dem in der Ausstellung 150 Werke hängen und stehen und liegen und schweben in einer Vielfalt, wie sie vielleicht nie zuvor zu sehen war, auch wenn sie das Bild des Künstlers nicht maßgeblich verändert.
Denn wie gewohnt wird Wesselmann (1931–2004) präsentiert als besessen bis an die Grenze des Manischen von Brüsten und Brustwarzen. Dutzendfach liest man den jeweils nur um eine Zahl ergänzten Titel „Great American Nude“ und staunt, in welch rasanter Geschwindigkeit er sich der 100 genähert hat. Als könne er sich an den Modellen nicht sattsehen. Und als experimentierte er noch mit den geringsten Perspektivwechseln aus reiner Neugierde am Ergebnis.
Dazu gesellen sich „Bed Room Paintings“ und „Sea Scapes“, für die er die Nackten im Bett oder am Strand posieren ließ. Konsequent hängen ihm im Selbstporträt beim Zeichnen, knapp zwei Meter hoch, zwei Busen vorm Gesicht. Erotischer als bei Wesselmann ist die Pop-Art nie gewesen.
Dabei hat alles ganz brav begonnen. Mit Comics zunächst, durch die Wesselmann während seiner Zeit im Koreakrieg den grausamen Erfahrungen als Soldat etwas Heiteres entgegensetzen wollte. Mit Bildern von Inneneinrichtungen des amerikanischen Mittelstands Ende der Fünfzigerjahre, als er in New York Kunst studierte. Oder war da mehr?
Im Rückblick jedenfalls lassen sich schon seine ersten, ironisch gefärbten Assemblagen aus den frühen Sechzigern mit dem schönen Schein der zum Fetisch erhobenen Konsumartikel nicht nur als dezente Kritik am Kapitalismus lesen. Er nahm vielmehr dort, wo er mit Originalteilen wie Kühlschranktüren, plärrenden Radios, laufenden Fernsehern, Fotografien der Werbung und seinen eigenen Gemälden den Blick vor allem in Badezimmer und Küchen lenkt, die Desillusionierung jener Frauen voraus, denen die männlichen Redakteure der Frauenmagazine seinerzeit die heile Welt des amerikanischen Traums in den aseptisch sauberen Villen der Vorstädte vorgaukelten.
Frauen, die zu Kriegszeiten Arbeitsplätze jeglicher Art übernommen hatten, sollten wieder Platz machen für die zurückgekehrten Männer und ihr Glück am Herd und zwischen den Überangeboten der Supermärkte finden. Womöglich auch vorm Spiegel und im Bett. „The Feminine Mystique“ hieß der Sachbuchbestseller, in dem Betty Friedan 1963 die Frustration einer ganzen Generation auf den Punkt brachte. Und wenn man genau hinschaut, wirken die Lippenstifte, die Wesselmann später für seine „Standing Still Lifes“ saalfüllend ins Gigantische vergrößert hat, wie Raketen, während sich mit den Kleenex-Tüchern, die meterhoch aus Boxen quellen, ganze Seen von Tränen aufwischen ließen.
Dennoch wird man Tom Wesselmann schwerlich als Frauenversteher bezeichnen wollen und schon gar nicht als Wegbereiter für Pussy Riot. Was ihn interessiert, sind Körper, nicht Individuen. Die Frauen bleiben anonym. Sie haben nicht einmal Gesichter. Anders als Warhol, dessen Marilyn in der Ausstellung zu sehen ist und der sich auch sonst reichlich Mühe gab, die Diven des Kinos und der amerikanischen Gesellschaft ins Ikonische zu heben, war es Wesselmann immer nur um Formen zu tun, um klare Umrisslinien, so schwungvoll und zugleich präzis auf die Leinwand oder das Zeichenpapier gebracht, dass man von chirurgischer Perfektion sprechen mag. Und um Farbflächen, auf die er die nackten Körper von blassem Teint über schimmerndes Rosa bis zu tiefstem Schwarz stets schattenfrei reduzierte.
Wie bei Matisse kamen irgendwann Scherenschnitte
Mitunter wirkt das, als habe er bereits in den Gemälden auf seine Scherenschnitte der Achtzigerjahre hingearbeitet – auch diese bisweilen wandfüllend. So wie er schon Ende der Sechziger, ebenfalls im riesigen Format, für etliche Gemälde die rechten Winkel der traditionellen Leinwand zugunsten wild geschnittener Silhouetten aufgegeben hatte. Da wurde das Bild selbst zur Figur und die Wand dahinter zum eigentlichen, wenngleich nur noch gedachten Körper. Auch dort machte sich Wesselmann die Überwältigungsästhetik der Billboards, der Werbetafeln entlang der amerikanischen Landstraßen und Stadtautobahnen, zunutze. Das Laute, Grelle, Knallige, mit dem den Autofahrern Botschaften in Sekundenbruchteilen ins Bewusstsein gehämmert werden sollen. Jedes Bild ein Angriff aufs Auge.
Allerdings ging Wesselmann raffinierter vor und bediente sich nicht nur Firmenlogos, die ihm zu Wanddekorationen seiner Raumentwürfe wurden, sondern er zerlegte wie en passant die Kunstgeschichte – kombinierte Landschaft, Stillleben und Akt, bezog sich hier auf Matisse und Picasso, dort auf de Kooning, fand zu einer verblüffenden Mischung aus Abstraktion und Figurativem, oder er übertrug die eruptiven Pinselstriche der Tachisten in eine sorgsam konstruierte, knallbunte, riesige Stahlskulptur, die den Betrachter zum Zwerg schrumpfen lässt und ihm den Boden unter den Füßen fortzieht. Manchmal ist die Größe doch entscheidend.
Dass bei Wesselmann am Ende überschäumende Lebensfreude überwiegt, wenn er auf riesigen Fußzehen Nagellack zum Leuchten bringt und sich auf seinen Bildern Lippen sinnlich öffnen, selbst dann, wenn Zigarettenqualm daraus aufsteigt wie Rauch aus einem Vulkan, wie er mit seinen strahlenden Farben nicht zuletzt die intensiven Erlebnisse einer Hippiekultur gebannt hat, das macht in der Ausstellung der Blick auf die Gegenwart nur umso deutlicher. Mit Arbeiten, die sich dezidiert auf Wesselmann berufen, aber jeglichen Glanz verbannen: die brutalen „Super Nudes“ von Derrick Adams etwa, in denen maskierte Schwarze Erotik mit Aggression verbinden, oder die bis zu vier Meter großen Aktcollagen von Mickalene Thomas, ebenfalls aus dem Jahr 2024, in denen die Körper zerfetzt sind und die Gesichter zu Fratzen entstellt. Da bleibt das Leben ernst – aber die Kunst ist nicht länger heiter.
Pop Forever: Tom Wesselmann & ... Fondation Louis Vuitton, Paris, bis zum 24. Februar 2025. Der Katalog kostet 45 Euro.