Der Philosoph Julian Nida-Rümelin wird siebzig

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Es gab in den vergangenen Jahren kaum ein Debattenthema, auf das sich Julian Nida-Rümelin nicht schriftlich eingelassen hätte. Die Demokratie verteidigte er gleich in mehrfacher Weise: Gegen die Forderung des Politikwissenschaftlers Philip Manow, wer es ernst mit ihr meine, dürfe die Verrechtlichung der Politik nicht zu weit treiben und das Verfassungsgericht nicht dem politischen Streit entziehen. Wenn die Demokratie auch ein Rechtsstaat sein soll, dann müssten auch die Rechte der Individuen und Minderheiten gegen die ungebremste Dominanz eines Mehrheitswillens verteidigt werden, hielt Nida-Rümelin entgegen.

Die Herrschaft des Volkes ist für den Professor der politischen Philosophie kein profanes Heiligtum, sondern ein humaner Konsens über Regeln und Verfahren. Sie gründet im Vertrauen auf ein gewisses Maß an politischer Rationalität und moralischen Intuitionen, die uns auch dann nicht verlassen, wenn uns die Dinge im Detail und im Ganzen längst über den Kopf gewachsen sind. Ein Diskuswerfer müsse nicht die Gesetze der Ballistik kennen, bevor er die Scheibe wegschleudere, hat Nida-Rümelin einmal gesagt. Dem studierten Philosophen und Physiker würde man zutrauen, die Strömungsgesetze zu beherrschen, bevor er, der frühere oberbayerische Jugendmeister im Schwimmen, ins Wasser steigt. Aber er würde den öffentlichen Freibadbesuch nicht von der Nachahmung seines Beispiels abhängig machen.

Er ist niemand, der die Augenbrauen hebt, wenn von Werten die Rede ist. Die Demokratie ist etwa davon abhängig, dass die Wertebasis der unterliegenden Partei von der siegreichen nicht so weit entfernt liegt, dass deren Herrschaft für sie inakzeptabel wird. Das war eines seiner Argumente gegen Angela Merkels Politik der rigorosen Grenzöffnung, von der die Ex-Kanzlerin heute nicht mehr viel wissen will: Wenn das Elektorat keinerlei Wertekonsens verbindet, hebt sich die Demokratie selbst auf, zumal ohne Grenzen kein Rechts- und Sozialstaat, ja überhaupt kein Staat zu machen ist.

In der Migrationsdebatte scheute Nida-Rümelin nicht das unpopuläre Urteil. Überhaupt ist er niemand, der sich von Parteizugehörigkeit (seit fünfzig Jahren SPD) oder öffentlicher Meinung übermäßig beeindrucken lässt. Dass er aus den Kulturkämpfen unbeschadet hervorging – er schrieb auch zur Cancel-Culture –, liegt an dem hohen Ansehen, das er sich als Kulturpolitiker (Bundeskulturstaatsminister und Münchner Kulturreferent), Philosophieprofessor und öffentlicher Intellektueller erwarb, und an der Nähe zu den Gegenständen, von denen er handelt. Nida-Rümelin bemisst seine Mitmenschen nicht an unerreichbaren Normen. Er hat ein Gefühl für das Ungefähre, das unsere Alltagswelt bestimmt. Man kann das Humanismus nennen – viele seiner Bücher führen den Begriff im Titel – oder unaufgeregter Realismus, wie Nida-Rümelin seine Position selbst in seinem Buch „Eine Theorie praktischer Vernunft“ (2020) beschrieb. Werte, postuliert er darin, sind keine nachgängigen Rationalisierungen erfolgreichen Verhaltens, sie haben unabhängig von uns Bestand. Dass sie mehr sind als strategische Diskursmasse, hat er ein ums andere Mal vorgeführt. Mit seinem scharfen und maßvollen Urteil erhellt er unsere trüben Debatten. Heute wird er siebzig Jahre alt.

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