„Sirat“ im Kino: Der Weg ist schrecklich, und er hat kein Ziel

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Wenn ein Film Menschen in ein Minenfeld schickt, kann er damit unterschiedliche Absichten verfolgen. In Frank Beyers „Karbid und Sauerampfer“ (1963) etwa verirrt sich Erwin Geschonneck ausgehungert in ein vermintes Waldstück – es ist Nachkriegszeit in Deutschland, und er hat zwischen den Kiefern Pilze erspäht. Die Minenwarnung erhält er erst, als er bereits mittendrin steht – man zittert mit ihm, hofft und muss lachen, weil Geschonneck nicht nur ein großer Charakterdarsteller war, sondern eben auch ein großes Talent für humoristische Untertöne im Mienenspiel hatte. Dem Publikum konnte er also vermitteln: Nur weil man sich in einem Minenfeld befindet, gibt man nicht auf, sondern nimmt seinen Mut zusammen und geht (so gut man kann) dem Leben entgegen. Auch in der Premierenvorstellung von „Sirāt“ entfuhr einigen im Publikum ein Lachen, als der Film seine Protagonisten in ein Minenfeld geraten ließ. Dieses Lachen war aber eins, das sich dem Körper entringt, wenn man kaum mehr erträgt, was sich da auf der Leinwand abspielt.

„Sirāt“ beginnt als Roadmovie. Ein Spanier sucht gemeinsam mit seinem kleinen Sohn in Nordafrika nach seiner vermissten älteren Tochter. Während sich bei einem illegalen Rave in der Wüste verschwitzte Leiber aneinanderdrängen, verteilen die beiden Zettel unter den Feiernden, weil sie hoffen, dass die Verschwundene sich unter ihnen befindet. Gesehen hat sie niemand, aber eine Gruppe bietet dem Vater an, dass er ihr durch die Wüste zu einem anderen Rave folgen könne, um dort weiterzusuchen. In einem kleinen Pkw versuchen Vater und Sohn, den Sichtkontakt zu den beiden Bussen der Raver nicht zu verlieren, die für die Fahrt über die steilen, steinigen Pisten des Atlasgebirges deutlich besser geeignet sind.

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Die Gruppe, verrät schon der Vorspann, hat der französische Regisseur Óliver Laxe aus Laiendarstellern zusammengecastet. Ihre Körper sind vom Leben gezeichnet, einem fehlt ein Fuß, in die Gesichter haben Drogenkonsum und Sonne ihre Furchen gegraben. Die meiste schauspielerische Arbeit übernimmt der einzige Profi auf der Besetzungsliste, der Katalane Sergi López, dessen Gesicht im europäischen Arthousekino aus zahlreichen spanischen, französischen und auch deutschen Produktionen bekannt ist.

Wüstenaufnahmen in dunstigen Farben

Er gibt hier den Vater, aus dessen Augen im Verlauf der Handlung langsam der zarte Hoffnungsschimmer schwindet. López’ Spiel mag ein Grund dafür sein, dass dieser Film in Cannes gemeinsam mit der deutschen Produktion „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski den Preis der Jury erhielt. Einen weiteren Grund kann man in den Bilder des Kameramanns Mauro Herce finden, der auf analoge Filmtechnik schwört. Die Reise durch die Wüste fangen seine Aufnahmen in dunstigen Farben ein, die weite Sandlandschaft liegt immer tief im unteren Drittel der Leinwand, darüber erstrecken sich verhangene Himmel.

Das zur Form, aber was teilt das Erzählte mit? Die ganze Fahrt geschieht vor dem Hintergrund einer sich langsam auflösenden Gesellschaft. Das Autoradio berichtet von Kriegshandlungen, wer hier wen angreift, bleibt unklar. Wie im Roadmovie üblich, passiert lange nicht viel – und dann spielt Laxe Schicksal (die Details seien aus Spoilervermeidungsgründen verschwiegen). Irgendwann jedenfalls finden sich die Reisenden im besagten Minenfeld wieder, und hier zeigt sich, dass Laxe nicht nur bei seinen Bildkompositionen der Romantik zugeneigt ist. Was er mit den Figuren anstellt, erinnert stark an eine berühmte Szene aus Ludwig Tiecks „Prinz Zerbino“. Darin lässt ein König Bleifiguren aufstellen. Sein Diener erhält den Befehl, sie abzuzählen („immer Funfzehn“). Wen es trifft, der wird umgeworfen. Getötet. Über das Resultat zeigt sich der König erschüttert: „Das Schicksal kehrt sich nicht an Kronen, an Schönheit, Reichthum, an Talente nicht! Die unerbittlich blinde Hand, gelenkt von einem dunklen rätselhaften Willen, greift unversehens hinein.“

So verfährt auch Laxe und erklärt damit das Leben zum Spielball dunkler Schicksalsmächte. Sich dagegen aufzulehnen, ja: überhaupt etwas zu tun, hat bei ihm keinen erkennbaren Sinn. Die Weltlage ist danach, dass das tröstet: Aha, sagt das Publikum, das habe ich mir auch schon gedacht. Aber wohin ist unterwegs, wer alle Hoffnung fahren lässt? Der Weg mag ein Minenfeld sein, aber ob das Ziel die Hölle ist, soll man nicht vorher zu wissen behaupten, um die eigene Erstarrung besser ertragen zu können.

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