Brief aus Istanbul: Die Daten von 85 Millionen Türken wurden geklaut

vor 1 Tag 3

Nehmen wir an, Sie sind nach Istanbul gekommen, sei es zum Arbeiten, sei es für den Urlaub. Sie haben auch eine Idee, wie Sie dafür sorgen, dass Ihre Telefonrechnung während Ihres Türkei-Aufenthaltes nicht explodiert. Um sich die Roaming-Gebühren zu sparen, wollen Sie eine E-SIM-Karte herunterladen. Leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie: Da Erdoğan an zwei von drei Mobilfunkan­bietern in der Türkei beteiligt ist, hat er in den letzten Wochen den Zugang zu internationalen E-SIM-Anbietern sperren lassen.

Können Sie im kostenlosen Airport-WLAN keine E-SIM-Karte auf Ihr Smartphone herunterladen, holen Sie sich notgedrungen an einer der Verkaufsstellen am Flughafen eine klassische SIM-Karte, woran dann die Unternehmen verdienen, an denen der Staat beteiligt ist. Kaum haben Sie die Karte eingelegt, trudelt als eine der ersten Nachrichten höchstwahrscheinlich eine SMS des türkischen Innenministeriums ein: „Glauben Sie auf keinen Fall Anrufern, die sich als Polizisten, Soldaten oder Staatsanwälte ausgeben, Ihnen er­klären, Ihr Name oder Ihr Bankkonto stehe im Zusammenhang mit einer Terrororganisation, und Geld oder Gold von Ihnen fordern. Informieren Sie in diesem Fall unverzüglich die Polizei.“

Kommt Ihnen eine solche Warnung seltsam vor? In einem demokratischen Rechtsstaat wird Sie niemand am Telefon einer Straftat bezichtigen. Und wenn doch, gehen Sie zur Polizei, und stellen Sie Nachforschungen an. Doch hierzulande, wo der Rechtsstaat ausgesetzt ist, wissen Sie, dass Sie ins Gefängnis kommen können, auch ohne dass Sie sich etwas zuschulden haben kommen lassen. Um das zu verhindern, würden Sie jemandem, der im Namen einer staatlichen Stelle anruft, womöglich ohne Weiteres Ihre Ersparnisse überlassen. Natürlich ist die Aussetzung der Rechtsstaatlichkeit nicht der einzige Grund dafür, dass derlei Betrugsversuche exorbitant angestiegen sind. Auch die Verschärfung der Wirtschaftskrise hat ih­ren Anteil daran, dass Betrug für etliche Arbeitslose zu einem neuen „Berufsfeld“ geworden ist.

Bülent MumayBülent Mumayprivat

Greift das Recht nicht mehr und bricht die Wirtschaft ein, steigen die Betrugs­fälle an. 2003, nach einem Jahr AKP-Regierung, waren 8808 Betrugsfälle aktenkundig. 2024 hat sich diese Zahl auf unglaubliche 911.695 erhöht. Infolge des von der AKP geschaffenen Systems wurden wir also mehr als hundertmal so oft betrogen. Kürzlich kam ein haarsträubender Skandal ans Licht, der diese Statistiken glatt vergessen macht: Eine Gruppe Betrüger brach in das staatliche Onlinesystem ein und errichtete gewissermaßen einen parallelen Staat!

Wie das? Nun, alle Einwohner der Türkei können etliche behördliche Formali­täten über ein Onlineportal erledigen, das sogenannte E-Government. Sei es ein Krankenhaustermin oder die Anmeldung bei den Elektrizitätswerken, vieles kann man von zu Hause aus bequem per Internet regeln. Dafür bekommen Sie einen Code auf das Handy, das auf Ihren Namen registriert ist. Zugriff auf Ihre Daten bei E-Government haben nur Sie selbst und der Staat. Das heißt: hatten. Denn nun kam heraus, dass vor ein paar Jahren sämtliche Daten der 85 Millionen Einwohner bei E-Government ins Darknet gelangt sind, wo Hacker sie verkaufen. Natürlich sind Betrüger die stärksten Abnehmer. Mit unseren Daten wurden Kreditkarten beantragt oder Unternehmen für Scheinfakturierung gegründet. Im jüngsten Fall gingen Be­trüger noch dreister vor: Sie benutzten ge­leakte Daten, um sich elektronische Signaturen von Beamten in Schlüsseleinrichtungen des Staates anzueignen. Mit diesen Un­terschriften erhielten sie Zugang zu staatlichen Stellen, änderten nach Gusto Daten, stellten diverse Dokumente aus.

Ein Drogendealer als Kommissar

Auch die elektronischen Signaturen des Geschäftsführers des für digitale Sicherheit zuständigen Amts für Informations- und Kommunikationstechnologie (BTK) und seines Stellvertreters wurden gestohlen. Die Betrüger verfügten über E-Signaturen von 270 Personen in wichtigen Staatsorganen, darunter hohe Beamte mit Verantwortung für Bildungs- und Staatsbürgerschaftsangelegenheiten.

Und wofür wurden diese Unterschriften eingesetzt? Die aufgedeckte Betrügerbande war vor allem im Bildungsbereich aktiv. Gegen Bezahlung hatte sie über das staatliche Onlinesystem mehreren Tausend Personen, die nie studiert hatten, Universitätsdiplome verschafft. Das herausragendste Beispiel ist wohl der Enkel des letzten osmanischen Sultans Abdulhamid II., der sich gegen Geld von der Bande ein Diplom ausstellen ließ. Ausgerechnet mit Abschluss im Fach Geschichte. Ein Drogendealer hatte sich einen Ausweis auf ei­nen echten Kommissar im Rauschgift­dezernat des Polizeipräsidiums Ankara ausfertigen lassen. Ein Mann, der von der Bande ein Bauingenieursdiplom gekauft hatte, baute gar vier Stauanlagen in der Türkei. Nicht genug der Merkwürdigkeiten, die Angelegenheit reichte bis in die Politik hinein. Wir erfuhren, dass der Vize des für das BTK-Amt zuständigen Ministers im Besitz von sechs Universitäts­diplomen, zwei Masterabschlüssen und drei Doktortiteln ist. Angeblich soll auch das Diplom von Levent Uysal, einem Abgeordneten der mit Erdoğan verbündeten MHP, gefälscht sein. Uysal ist stolzer Besitzer einer Privatuniversität in Istanbul. Statt sich zu den Vorwürfen zu äußern, ließ Uysal den Zugang zu Beiträgen in den sozialen Medien zum Thema sperren.

Bestraft werden jene, die von dem Datenklau berichten

Nachdem sich das Palastregime die Kontrolle über die traditionellen Medien gesichert hatte, übte es verstärkt Druck auf die digitale Welt aus. Übt man im Internet auch nur die kleinste Kritik, bekommt man Probleme. Websites, die den Palast vergrätzen, werden auf Betreiben des BTK-Amtes gesperrt, das die eigenen Da­ten allerdings nicht zu schützen wusste.

Der jüngste Skandal zeigt, dass die Tore der digitalen Welt, die die Regierung der Opposition zu versperren sucht, Betrügern weit offenstehen. Das Diplom von Erdoğans aussichtsreichstem Kontrahenten Ekrem Imamoğlu, das dieser vor dreißig Jahren erhalten hatte, wurde annulliert und er selbst ins Gefängnis gesteckt, doch als Tausende falsche Diplome ausgestellt wurden, schaute man nur zu. Übrigens kam der Skandal der gefälschten Diplome keineswegs durch eine staatliche Ermittlung ans Licht. Vielmehr kam er durch Anzeigen von Personen heraus, die für ihr „Diplom“ bezahlt, es dann aber von den Betrügern nicht erhalten hatten. Daraufhin wurden etliche Betrüger festgenommen und Verfahren gegen sie eingeleitet. Die Beamten aber, die nicht in der Lage waren, ein sicheres Onlinesystem zu errichten und die Daten der Bürger zu schützen, die sich gar die eigenen Unterschriften stehlen ließen, blieben unbehelligt.

In diesem Land werden nicht die Ver­ursacher von Datenleaks bestraft, sondern jene, die über Leaks berichten. Während unsere Daten Hackern in die Hände fielen, erließ die Regierung Anfang des Jahres ein Gesetz, um jene zum Schweigen zu bringen, die dagegen protestieren. Wer über das vom Staat nicht einmal eingestandene Datenleak spricht, muss mit zwei bis fünf Jahren Haft rechnen.

Hierzulande gehört es mittlerweile zur Normalität, dass nicht die Täter bestraft werden, sondern jene, die sich über Verbrechen beklagen. So wurde ein junger Mann wegen Desinformation verhaftet, weil er bei einer Sitzung des Europarats die Gewalt der türkischen Polizei gegenüber Demonstranten angeprangert hatte. Gegen ihn wurde Untersuchungshaft angeordnet, weil Fluchtgefahr bestehe. Dabei war er auf eigenen Wunsch in die Türkei zurückgekehrt und dann am Flugplatz festgenommen worden. Ein im Zusammenhang mit einem Justizskandal zur Fahndung ausgeschriebener Rechtsanwalt hingegen musste nicht ins Gefängnis, obwohl er bei dem Versuch, aus der Türkei zu flüchten, gestellt wurde.

Und noch ein letzter straffrei geblie­bener Betrugsfall: Die meisten von Ihnen werden wissen, dass die offizielle türkische Religionsbehörde Diyanet in Europa Filialen betreibt, die dort als Vereine organisiert sind. Dort bieten zumeist von der Türkei entsandte, von Diyanet finanzierte Imame religiöse Dienstleistungen für Türkeistämmige in der Diaspora an. Nun wurde bekannt, dass einige Imame von Diyanet-Vereinen in Österreich die aus Ankara erhaltenen und von der Gemeinde vor Ort gesammelten Gelder für persönliche Vergnügungen ausgaben. Laut Ermittlungen von Diyanet bestellten einige Imame mit dem für Religionsdienste bestimmten Geld gar Escort-Damen und nahmen dann zu ihrer Überprüfung geschickte Inspek­toren gleich mit zu ihren Verlustierungen. Und was tat das Erdoğan unterstehende Diyanet? Es suspendierte die Imame zwar vom Dienst, überließ die Strafe für ihre Sünden aber dem Jenseits.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

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