Beginnen wir mit Suzanne Lindon. In der zweiten Staffel der Serie „En thérapie“ – der besten aller Variationen auf das israelische Original „Be tipul“ – spielte sie die Architekturstudentin Lydia, die sich weigert, sich ihrer Brustkrebsdiagnose zu stellen und eine Behandlung anzufangen, aus Angst vor den Veränderungen ihres Körpers, vor der Reaktion ihrer Eltern und Freunde, vor dem sozialen Stigma, eine Kranke zu sein. Sie war großartig in dieser Rolle, scheu, verletzlich und zugleich impulsiv und von verborgener Wildheit, ein menschliches Rätsel und durchsichtig wie Glas.
Das alles ist sie auch in „Die Farben der Zeit“, einem Film von Cédric Klapisch, nur dass sie jetzt einen Schleierhut mit breiter Krempe, einen steifen Rock und eine Reisetasche trägt. Sie verlässt ihr Heimatdorf und besteigt ein Postboot nach Paris, und ein blonder Junge, ihre Jugendliebe, läuft noch eine Weile neben ihr her, bevor er am Horizont verschwindet und die Geschichte sich einschifft ins unbekannte, allzu bekannte neunzehnte Jahrhundert, in dem sie spielt.
Weißdornhecken und alte Fotografien
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Klapischs Film spielt auch im Hier und Heute, und dort fängt er auch an, mit einer Testamentseröffnung, bei der so viele Leute zusammenkommen, dass man von einer Erbenversammlung reden kann. Vier von ihnen, ein Bienenzüchter, eine Managerin, ein Französischlehrer und ein junger Fotograf, sind mit der Erblasserin näher verwandt, so dass sie das allen zugefallene Gut, ein Landhaus in der Normandie, in Augenschein nehmen dürfen. Sie finden Weißdornhecken, sperrige Türen, staubige Möbel, alte Fotografien und Briefe, ein Skizzenbuch. Das Haus soll einem Solarpark weichen, die neuen Interessenten bieten einen guten Preis.
Aber dann beginnt Seb, der Fotograf, zu träumen. Er träumt von Adèle, die an einem Sommermorgen die Tür hinter sich abschließt und aufs Postboot steigt, um nach ihrer Mutter im fernen Paris zu suchen. Sie findet sie zwischen Plüsch und Plunder in einem Bordell, aus dem sie geschockt zurück auf die Straße flieht, ohne ein Zimmer für die Nacht. Zum Glück hat sie auf dem Boot zwei junge Männer kennengelernt, die in der Hauptstadt Karriere machen wollen, der eine als Maler, und als sie die beiden in einer Kneipe am Montmartre wiedertrifft, bekommt sie sowohl Unterkunft als auch Arbeit. Bald steht sie dem einen wie dem anderen Modell, und Kleider nähen kann sie auch.
Suzanne Lindon also ist Adèle, die Parisreisende des Jahres 1895, und auch in der Rahmenhandlung gibt es ein paar bekannte Gesichter des französischen Kinos, etwa Vincent Macaigne als Bienenzüchter oder Cécile de France als Museumsexpertin. Aber eigentlich ist „Die Farben der Zeit“ ein Film ohne Stars. Es geht nicht um Einzelauftritte, sondern um Gruppen, Beziehungen, Milieus. Cédric Klapisch ist ein Spezialist für Milieugeschichten, er hat sie in „. . . und jeder sucht sein Kätzchen“ und den Filmen der „Auberge Espagnole“-Trilogie mit durchschlagendem Erfolg erzählt. Diesmal geht es um das Milieu der Erben von heute und das der Künstler von damals. Die Beziehung zwischen ihnen stiften die Tagträume des Fotografen Seb. Doch dem Regisseur genügt das nicht, er sucht nach einer stärkeren Klammer. Im Musée de l’Orangerie filmt Seb einen Modeclip vor Monets „Seerosen“ (eines der Models stört sich an den Farben des Bildes). Und im Paris von 1895 trifft Adèle den echten Claude Monet.

Das ist der Punkt, an dem der Film ins Gefällige kippt. Die Parisreise der lebenshungrigen Adèle mit der Mutter-Tochter-Begegnung im Freudenhaus und der sich anbahnenden Ménage-à-trois im Künstler-Bistro hatte immerhin noch einen Hauch von Drama. Aber mit jedem Karriereschritt des Mädchens mit dem Schleierhut dreht sich die Handlung ein Stück weiter in Richtung Geschichtstourismus. In den Kreisen, in die ihre neuen Freunde sie einführen, verkehrt Adèle bald ebenso selbstverständlich mit Monet (Olivier Gourmet) wie mit Victor Hugo und dem greisen Nadar. Und in der Gegenwart finden das Erbenquartett bald heraus, dass eine Skizze von Le Havre aus dem Besitz ihrer Vorfahrin tatsächlich von der Hand des großen Impressionisten stammt.
Adèles Mutter, erfahren wir, hatte eine Affäre mit dem Maler, als er „Impression, Sonnenaufgang“ schuf, die Ikone seines Zeitalters. Man hätte der jungen Frau, die vielleicht seine Tochter ist, die ganze Wucht dieser Entdeckung gegönnt. Aber der Film tischt sie nur auf wie ein Stück kandierte Vergangenheit. Und die Regie lässt Suzanne Lindon gerade in dem Augenblick im Stich, in dem sie ihr Talent wirklich ausspielen könnte.
Das französische Kino blickt in jüngster Zeit gerne nostalgisch auf die Kunst seiner Vorväter zurück. Vincent Macaigne hat zuletzt den Maler Pierre Bonnard gespielt (F.A.Z. vom 4. Juni), und auch Renoir war schon dran. Dabei gäbe die Kinogeschichte selbst genügend Stoff für Thriller und Melodramen her. Der Sohn des berühmten Renoir beispielsweise war ein ebenso berühmter Filmregisseur. Aber vielleicht scheuen die heutigen Erben ja den Vergleich.