Zwei Männer fahren in einem Lastwagen an der innerdeutschen Grenze entlang, von Ort zu Ort. Ein Mann und ein Mädchen fahren im gemieteten Wagen durch das Ruhrgebiet, um die Großmutter des Kindes zu suchen. Ein Mann fährt mit seinem Sohn von Los Angeles nach Houston, um ihn zu seiner Mutter zurückzubringen. Ein Cowboydarsteller flieht von einem Filmset im Monument Valley und fährt nach Montana, um seine alte Liebe und die Mutter seines Sohnes wiederzufinden.
Wenn man die Kilometer zusammenrechnet, die die Figuren des Filmregisseurs Wim Wenders im Kino zurücklegen, kommt mindestens eine Erdumrundung dabei heraus. Dazu muss man noch die Flugmeilen addieren, die seine Helden auf ihren Reisen anhäufen, zwischen Lissabon und Hollywood, Hollywood und Berlin, New York und Frankfurt, Paris und Tokio, San Francisco und Sydney. Nicht zufällig heißt der längste, teuerste und ambitionierteste Film, den Wenders bislang gedreht hat, „Bis ans Ende der Welt“.
Nur die Engel haben eine feste Adresse
Ein Reisender, der von Reisenden erzählt. Das ist das gängige Klischee über den Filmemacher Wenders, und es stimmt: Wenders selbst hat es viele Male wiederholt. Aber es stimmt nur zum Teil. Zum Reisen gehört der Aufbruch von zu Hause und die Bewegung auf ein Ziel hin. Aber Wenders’ Reisende haben kein Ziel und ihr Zuhause längst hinter sich. Sie sind unterwegs, das ist ihre einzige Gewissheit und ihr Lebenszweck. Nur die Engel im „Himmel über Berlin“ besitzen eine feste Adresse im Diesseits. Anstelle des Raums durchqueren sie die Zeit, von den Jahrmillionen vor der Menschheit bis ins Jetzt.
Dabei stolpern sie immer wieder über die deutsche Vergangenheit. Als der Engel Damiel, in Liebe zu einer Trapezartistin entflammt, als Sterblicher auf die Erde fällt, gerät er als Erstes auf einen Filmset, auf dem Darsteller in Naziuniformen herumlaufen. Dort trifft er den Helden einer amerikanischen Krimiserie, der einen alliierten Agenten spielt. Auch er war einmal ein Engel, im Himmel über Hollywood.

Es spricht für sich, dass kein Film den Ruhm des Regisseurs Wenders so fest begründet hat wie „Der Himmel über Berlin“, diese kaum verklausulierte Geschichte einer inneren Heimkehr. Der Film kam im Jahr des Mauerfalls in die Kinos, in ihm trafen die Sehnsucht eines Volkes und die Sehnsucht des Künstlers zusammen. Doch vor dem Rücksturz auf die deutsche Erde stand jahrzehntelange Entfremdung.
Der Arztsohn Wim Wenders, aufgewachsen in Düsseldorf und Oberhausen, gehörte zur ersten Generation deutscher Cineasten, die an eigens eingerichteten Filmhochschulen den Aufstand gegen Papas Kino proben konnten. Aus Paris, wo er Stammgast der Cinémathèque gewesen war, hatte Wenders die Liebe zu amerikanischen Western und Gangsterfilmen mitgebracht, und in München, wo er studierte, eiferte er seinen Vorbildern nach. „Summer in the City“, sein Abschlussfilm von 1970, ist im Kern die Geschichte eines Mannes, der es eilig hat, aus Deutschland wegzukommen, und „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, die im Jahr darauf entstandene Verfilmung einer Erzählung von Peter Handke, zeigt in Westernbildern die Irrfahrt eines Frauenmörders von Wien ins österreichische Burgenland.

Aber schon in Wenders’ übernächstem Film „Alice in den Städten“ ist die Begeisterung für alles Amerikanische gebrochen. Der Fotograf Philip Winter kehrt desillusioniert aus New York zurück, weil ihm, wie er sagt, „Hören und Sehen vergangen“ sind. In Deutschland, wo er ein unterwegs aufgegabeltes Mädchen zu seiner Familie zurückbringt, scheint er beides wiederzufinden. Ein Jahr später freilich, in „Falsche Bewegung“, geht die Desillusionierung weiter, der Held, der jetzt Wilhelm Meister heißt wie in Goethes Bildungsroman, findet auch auf seiner Reise von der Ostsee an die Zugspitze keinen Halt. In „Im Lauf der Zeit“ heißt die Hauptfigur dann wieder Winter: ein Filmvorführer, der in den Provinzkinos an der Zonengrenze die Projektoren repariert und dabei das Ende der ländlichen Kinokultur miterlebt.
Es war diese Geschichte, mit der der Stern des Wim Wenders aufging. In Cannes gewann „Im Lauf der Zeit“ den Preis der Filmkritik, in Chicago den Hauptpreis des dortigen Festivals. Im Jahr darauf verfilmte Wenders einen Roman von Patricia Highsmith, mit Dennis Hopper und Bruno Ganz: „Der amerikanische Freund“ wurde sein erster Kassenerfolg. Als er 1977 auf Motivsuche für ein Science-Fiction-Projekt in Australien war, rief ihn Francis Ford Coppola aus Los Angeles an, um ihm die Regie in einem Film über den Krimischriftsteller Dashiell Hammett anzubieten. Wenders sagte sofort zu.

Das Trauma der fünf Jahre dauernden Produktion von „Hammett“ hat Wenders oft beschrieben, am besten in seinem Kurzfilm „Reverse Angle“. Es rührte aus dem Umstand, „dass mir weder die Geschichte noch die Bilder gehören“. Beides ist bei Wenders entscheidend. Denn die Geschichte hat, wenigstens vor der interkontinentalen Großproduktion „Bis ans Ende der Welt“, immer mit ihm selbst zu tun, und der Zuschnitt der Bilder verbürgt seine Autorschaft. Deshalb ist die brave, unpersönliche Gangsterstory „Hammett“ ein Fremdkörper in Wenders’ Kino.
Um die erlittene Demütigung zu kompensieren, dreht Wenders in kurzer Folge zwei seiner besten Filme: „Der Stand der Dinge“, die Geschichte eines Regisseurs, dem das Geld ausgeht und der mit der Kamera in der Hand auf dem Sunset Boulevard erschossen wird, und „Paris, Texas“, sein bis heute kommerziell erfolgreichstes Werk. Nie wieder haben die Skyline von Houston und das Lichtermeer von Los Angeles in einem deutschen Film heller geleuchtet. Der ziellos Reisende, der Kinopoet der leeren Landschaften ist eben auch ein Wiederverzauberer der Städte, nicht nur in „Der Himmel über Berlin“.

Nach dem Berlinfilm aber hatten die Reisen auf einmal ein Ziel. Der einsame Wanderer Wenders wollte zum epischen Erzähler werden, die Männergeschichten mit weiblichem Randpersonal sollten sich zu Gesellschafts- und Weltpanoramen dehnen. Dass das in „Bis ans Ende der Welt“ nicht funktionierte, hat Wenders bis heute nicht verwunden, wie man in einem gerade im Verlag der Autoren unter dem Titel „Wesentliches“ erschienenen Essayband nachlesen kann, in dem er dem Film einen elegischen Rückblick widmet.
Doch die Enttäuschung hat ihn nicht davon abgehalten, es immer wieder mit dem Panoramablick zu versuchen, mit „In weiter Ferne, so nah!“ im wiedervereinigten Berlin, mit „Am Ende der Gewalt“ und „Million Dollar Hotel“ im zerrissenen Los Angeles und mit „Palermo Shooting“ in den Labyrinthen Siziliens. Und so stark war die Anziehungskraft seines amerikanischen Traums, dass er noch einmal acht Jahre lang in Hollywood lebte und arbeitete, bevor er nach „Don’t Come Knocking“ den Versuch aufgab, einen Western mit europäischer Bildsprache zu drehen

Wer unterwegs ist, kann nicht einfach in seiner eigenen Spur zum Ausgangspunkt der Reise zurückgehen. Deshalb hat es wenig Sinn, den Verlust der lyrischen Schönheit von Wenders’ frühen Filmen in seinem Spätwerk zu beklagen. Zumal es diese Schönheit und Schlichtheit ja weiterhin gibt: in seinen Dokumentarfilmen. Hier ist sein wacher, präziser, grenzenlos neugieriger Blick ganz bei sich selbst, ganz gleich, ob es um Musik („Buena Vista Social Club“), Tanz („Pina“), Fotografie („Das Salz der Erde“) oder bildende Kunst („Anselm“) geht. Und hier kann man das Wunder eines Kinos erleben, das sich ganz den Dingen hingibt, ohne dabei seinen Eigensinn zu verlieren – ein Wunder, das Wenders in seinem jüngsten Spielfilm „Perfect Days“ wiederholt hat, indem er die Geschichte eines Toilettenreinigers in Tokio mit dokumentarischen Mitteln und einem Minimum an Fiktion erzählte.
Der größte lebende deutsche Filmregisseur ist zugleich einer der größten Fotografen. Wenn man die Aufnahmen sieht, die Wenders von seinen zahllosen Reisen mitgebracht und in Bildbänden versammelt hat, fragt man sich, wie lange es noch dauert, bis seine Arbeit mit der Kamera ebenso anerkannt ist wie seine Arbeit im Kino. Beide entspringen dem gleichen Impuls: das Sichtbare festzuhalten, einzufangen, was (noch) da ist. Man müsse sich beeilen, etwas zu sehen, hat der Maler Cézanne gesagt: „Alles verschwindet.“ Wim Wenders hat diesen Satz oft zitiert. Heute wird er achtzig Jahre alt.