Schule: Kann eine „Bildungs-ID“ Schüler vor dem Scheitern bewahren?

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In seinen ersten Jahren war der Schüler Cem Özdemir nicht sehr erfolgreich. Zu den „rekordverdächtigen“ Leistungen des jungen Cem, so erzählte er es mal dem Zeit Magazin, gehörte ein Diktat, in dem er auf zwei Seiten 50 Fehler produzierte. Doch eine Fünf in Deutsch bedeutet keineswegs, dass aus einem Schüler nichts mehr werden kann. Mit Ehrgeiz und der Hilfe seiner Nachhilfelehrerin schaffte Özdemir, Kind türkischer Gastarbeiter, erst die Mittlere Reife, dann das Fachabitur. Später stieg er auf bis zum Bundesminister für Landwirtschaft und kurzzeitig auch für Bildung.

In rund sieben Monaten soll ein weiteres bedeutendes Amt dazukommen, zumindest wenn es nach Özdemir und den Grünen geht: Özdemir will Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. Der Wahlkampf hat zwar offiziell noch nicht begonnen, trotzdem fällt auf, dass sich Özdemir in diesen Tagen auf einem Themenfeld besonders fleißig zu Wort meldet: dem Schulwesen.

Wer keinen Abschluss hat, der findet häufig auch keine Ausbildungsstelle

Sein jüngster Vorstoß: die Forderung nach einer sogenannten „Bildungs-ID“. Alle Schüler sollen eine Identifikationsnummer bekommen. Diese ID kann man sich wie ein digitales Verzeichnis vorstellen. Sie soll die gesamte „Bildungsbiographie“ enthalten, zum Beispiel Zeugnisse, sagte der grüne Spitzenkandidat der Deutschen Presse-Agentur. Probleme in Mathe, Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung – all das ließe sich schnell nachschauen. Özdemir sagt: „Das wäre ein wichtiger Baustein für eine zielgenaue Förderung und mehr Bildungsgerechtigkeit.“

In seiner Vorstellung soll die ID vor allem an einer zentralen Schwäche des deutschen Bildungswesens ansetzen: Rund 50 000 junge Menschen in Deutschland verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Und wer keinen Abschluss hat, der findet häufig auch keine Ausbildungsstelle. Die Situation ist weder für die gescheiterten Schüler noch für die Unternehmen zufriedenstellend, die ihre Lehrstellen nicht besetzen können. Özdemir bezeichnet das Vorhaben als „eine Art Frühwarnsystem“, das Alarm schlägt, „bevor ein Schüler durch das Raster fällt.“

Ganz neu ist diese Idee nicht. Die niedersächsische Landesregierung will die Bildungs-ID bis 2027 einführen. Und auch in Baden-Württemberg gibt es bereits entsprechende Pläne, worauf die Landes-CDU irritiert hinweist. Özdemir produziere „Schlagzeilen fürs Schaufenster“, heißt es.

Der Bildungsförderalismus könnte zur Hürde werden

Wie effektiv so eine Identifikationsnummer letztlich sein wird, dürfte am Ende allerdings nicht von einzelnen Bundesländern abhängen. Denn Schülerinnen und Schüler ziehen auch mal um. Vollständig erfassen lässt sich der Bildungsweg also nur, wenn das Verzeichnis bundesweit in einheitlicher Form kommt – eine Voraussetzung, die im deutschen Bildungsföderalismus durchaus zur Hürde werden kann.

Immerhin: Die schwarz-rote Bundesregierung hat die Schüler-ID auf dem Schirm. Ihre Einführung werde unterstützt, heißt es im Koalitionsvertrag. Wie genau, das sei „Gegenstand aktueller Beratungen“, teilt das Bildungsministerium auf Anfrage mit. Auch hier setzt man große Hoffnungen auf das Register: von „besserer individueller Förderung“ bis hin zur „Unterrichtsentwicklung“.

Bleibt die Frage, ob eine Identifikationsnummer das alles leisten kann. Bislang ist sie vor allem eine Idee, kein fertiges Konzept. Entsprechend offen sind viele Fragen: Welche Informationen bekommen die Lehrer genau? Wie ist es mit dem Datenschutz? Ein „sinnvolles Instrument“ könne die ID auf jeden Fall sein, sagt der Bildungsforscher Klaus Klemm, allerdings nur als Teil eines „größeren Baukastens an Fördermaßnahmen“. Es genüge schließlich nicht, nur festzuhalten, dass ein Kind nicht gut lesen oder rechnen kann. Die Lehrkräfte müssten dann auch gezielt etwas dagegen tun. „Über die ID weiß die Schule, wo sie Ressourcen einsetzen könnte, wenn sie die Ressourcen hätte.“ Das sei der zentrale Punkt, sagt Klemm: „Die Gefahr besteht, dass man mit großem Aufwand eine Identifikationsnummer einführt und dann sagt: Wir haben doch was getan.“

Diese Sorge treibt auch den Verband Niedersächsischer Lehrkräfte um. Dort heißt es, die Bildungs-ID gehe am Kernproblem der Schulen vorbei: dem Personalmangel. Entscheidend für eine erfolgreiche Schullaufbahn sei eine „ausreichende Unterrichtsversorgung“, daran fehle es seit Jahren. Auffällige Schüler bräuchten intensive Unterstützung – die sei derzeit nur schwer zu leisten.

Die Ursachen des Scheiterns sind oft komplex

Raphaela Porsch, Bildungsforscherin an der Universität Vechta, sagt, dass es auch eine Frage des Willens sei. Sie kennt Fälle, bei denen Lehrer sagen: Das Kind habe eine Rechtschreibschwäche, aber kümmern? Das sollen bitte die Eltern machen. Da bringe auch die ausgefeilteste Bildungs-ID nichts, sagt Porsch.

Grundsätzlich hält sie das Vorhaben für richtig, weil es in der Regel hilft, den „Informationsgehalt“ zu erhöhen. Was die Wirkung angeht, ist die Forscherin allerdings nicht so optimistisch wie Cem Özdemir, der Initiator der Bildungs-ID-Debatte. Der hofft ja, dass das Verzeichnis zum „Schulabbrecher-Prellbock“ werden könnte. Dass dadurch viel mehr Kinder den Schulabschluss schaffen, glaubt Porsch eher nicht. Weil die Ursachen des Scheiterns oft komplex sind, schlechtes Deutsch zum Beispiel, oder Eltern, die nicht so unterstützen, wie es nötig wäre.

Schnell helfen könnte das digitale Register wohl am ehesten beim Thema Schwänzen, „Schulabsentismus“, wie Forscher sagen. Auch das ist ein Risikofaktor: Wer häufig den Unterricht verpasst, schafft am Ende öfter die Prüfungen nicht. Wenn die Lehrer also zum Beispiel schnell im Computer nachschauen könnten, ob ein Schüler schon mal in früheren Jahrgangsstufen als notorischer Schwänzer aufgefallen ist, dann könnten sie direkt reagieren und mal zu Hause anrufen.

Andererseits muss es nicht uneingeschränkt positiv sein, wenn Lehrer plötzlich jedes Details aus der Vergangenheit ihrer Schüler kennen, jeden Fehltritt, jedes Problem. Es dürfe nicht so weit kommen, „dass ein Schüler immer als rechtschreibschwach gelabelt wird“, sagt Porsch. Unvoreingenommenheit ist wichtig. Vor allem an der Schule, wo es doch immer heißt: Jedes Jahr fangen alle bei Null an. Zumindest theoretisch.

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