Als „Wiegenlieder meiner Schmerzen“ hat Johannes Brahms seine zwanzig späten Klavierstücke bezeichnet. Die drei Intermezzi des Opus 117 hat Igor Levit an den Beginn des Klavierabends gestellt, mit dem er für den erkrankten Jewgeni Kissin bei den Salzburger Festspielen einsprang. Es ist Musik von einer solchen Vertraulichkeit, dass „ein Hörer für sie schon zu viel sei“, wie des Komponisten Freund Eduard Hanslick sagte.
Das Salzburger Festspielhaus bietet 2179 Hörern Platz, für die Vertraulichkeit offenbar zum Fremdwort geworden ist. Und viele sind mit jenen Folterinstrumenten bewaffnet, die im Molto espressivo eines Andante zu sirren beginnen. Levit drehte den Kopf beiseite, mit einem angestrengt beherrschten Lächeln. Auch bei Brahms’ vier Balladen op. 10 gab es immer wieder Attacken durch ungehemmten Hustenlärm, der nicht nur Levits Konzentration spürbar störte, sondern auch die vieler Hörer, die darüber hinaus hinnehmen mussten, dass neben ihnen kleine Bildschirme aufflammten.
Nach diesem Kampf übernahm Levit im zweiten Teil des Abends das Programm, das Kissin vorgesehen hatte: die zweite Klaviersonate von Dmitri Schostakowitsch, dem zum fünfzigsten Todestag eine Konzertreihe unter dem Titel „Flaschenpost aus der Diktatur“ gewidmet ist. Levit hatte in dieser Reihe schon mit dem jungen Kollegen Lukas Sternath die vierhändige Klavierfassung der zehnten Sinfonie des Komponisten gespielt.
Die zweite Sonate ist ein sprödes, ein düsteres Stück. Es gehört nicht zu den chevaux de bataille der Virtuosen. Nach dem kontrapunktisch dichten Finalsatz war bei vielen Hörern das Gefühl staunender Irritation spürbar. Der persönliche Eindruck: Am besten wär’s, den Pianisten um ein Dacapo zu bitten, um sich der Herausforderung sogleich noch einmal auszusetzen. Entstanden ist die Sonate 1943, in der Zeit, als Schostakowitsch an seiner achten Sinfonie arbeitete. In ihr wollte er, so der mit ihm gut vertraute Dirigent Kurt Sanderling, „den Schrecken des Lebens eines Intellektuellen in der damaligen Zeit“ zum Ausdruck bringen.
Gewidmet war sie dem im Oktober 1942 gestorbenen Leonid Nikolajew, seinem verehrten Klavierlehrer. Selbst Vertraute des Komponisten waren befremdet von dem sperrigen Werk. Heinrich Neuhaus, der Doyen der russischen Klavierpädagogen, bewunderte zwar „höchste Meisterschaft, Neuheit und Intellekt“, empfand das Werk aber als „leer für die Seele, klug und uralt . . . uralter Kummer verzehrt und bedrückt.“ Es war Schostakowitschs eigene Interpretation bei einer Aufführung 1947 beim Prager Frühling, die den Pianisten Emil Gilels stärker beeindruckte als das Werk selbst, das er schließlich doch 1962 aufnahm.
Es ist eine Komposition tastender und immer wieder neuer Anläufe. Zu Beginn des Larghetto führt eine scheinbar improvisierte Passage laufender Sechzehntel in ein melodisches Selbstzitat: die Umkehrung des Eröffnungsmotivs der ersten Symphonie. Ein in den ruhelosen Toccata-Satz eingeschobener, schnell-virtuoser Marsch hat einen sarkastischen Charakter – vielleicht den einer parodistischen Schlachtenmusik. Beklemmend der zweite Satz mit bruchstückhaften, quasialeatorisch auftauchenden melodischen Fragmenten. Dann ein dramatisch geballtes Variationsfinale: ganz und gar durchdrungen von der tiefen Trauer der russischen Musik und von einem Unterton der Gewalt – ein Weg ins Herz der Finsternis.
Levit beendete den Kampf des Abends mit drei Fugen aus den 24 Präludien und Fugen op. 87 – zum Schluss mit der Doppelfuge Nr. 24 d-Moll. Nach diesem pianistischen Monumentalbau verlor der Jubel des Publikums alle Besinnung.