USA: Der Exodus aus Texas

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Die Geschichte der politischen Blockadetaktiken kann nicht ohne Abraham Lincoln erzählt werden. Es war im Dezember 1840, als er im Staatskapitol von Springfield, Illinois, aus dem Fenster hüpfte. Einige besonders treue Freunde seiner Whig-Partei sollen ihm spontan gefolgt sein.

Der spätere republikanische US-Präsident hat die Aktion, die Augenzeugen als „Mr. Lincoln und seine fliegenden Brüder“ verspotteten, offensichtlich heil überstanden, es war ja auch nur das Fenster im ersten Stock. Lincoln, damals Bundestaatsabgeordneter in Illinois, ging es darum, eine Abstimmung zu verhindern, die seine politischen Gegner, die Demokraten, sicher gewonnen hätten. Seine letzte Chance sah er darin, das Parlamentsgebäude zu verlassen, um das Quorum zu unterbieten, also die für eine Beschlussfähigkeit vorgeschriebene Mindestzahl an Anwesenden. Weil die Demokraten das offensichtlich ahnten, versperrten sie die Eingangstür – aber sie hatten die Fenster vergessen.

Der fliegende Lincoln ist gerade wieder von erstaunlicher Aktualität. Gewählte Abgeordnete der Demokraten sollen sich die Geschichte am Wochenende bei ihrer Flucht aus Texas erzählt haben. Gewissermaßen als Selbstvergewisserung, dass ihre Aktion von ruhmreichen historischen Vorbildern gedeckt ist. Wenn Lincoln so etwas durfte, dürfen sie das ja wohl auch.

Diese Blockadetaktik ist in den USA als Quorum-Busting bekannt und in der Vergangenheit von Politikern beider Parteien immer mal wieder, aber sehr dosiert eingesetzt worden. Denn letztlich geht es ja darum, eine parlamentarische Abstimmungsniederlage zu verhindern, indem man zumindest vorübergehend den Parlamentarismus außer Kraft setzt. Dass man so etwas nur in absoluten Notfällen machen sollte, darin waren sich die knapp 60 Demokraten aus Texas einig, die am Sonntagmittag in einer konzertierten Aktion ihren Bundesstaat verließen.

Bei den Midterm-Wahlen im kommenden Jahr geht es vor allem um die Frage, ob es die Demokraten es schaffen, wieder die Mehrheit im US-Repräsentantenhaus zurückzuerobern. Denn davon hängt ab, ob Donald Trump bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit weitgehend ungehindert durchregieren kann. Trump will solch ein Comeback der Demokraten bei den Midterms selbstverständlich verhindern, und zwar mit allen Mitteln. Einer der Brennpunkte dieser Auseinandersetzung ist Texas, der bevölkerungsreichste US-Bundesstaat hinter Kalifornien.

Trump hat die regierenden Republikaner in der texanischen Hauptstadt Austin dazu gedrängt, noch vor den Midterms den Zuschnitt der Wahlbezirke in seinem Sinne umzugestalten. Tatsächlich wollen seine Parteifreunde jetzt über einen Vorschlag für dieses sogenannte Gerrymandering abstimmen lassen. Experten zufolge könnten die texanischen Republikaner damit fünf Parlamentssitze mehr in Washington gewinnen – bei gleichbleibendem Wahlergebnis. Die Demokraten in Austin halten das für einen klaren Fall von Wahlmanipulation. Und sie glauben, dass sie die Neuordnung von Texas nur dann noch stoppen können, wenn sie bis auf Weiteres mit ihrer kollektiven Abwesenheit die Abstimmung verhindern.

Der Exodus der texanischen Demokraten soll am Samstagmittag um 1 Uhr beschlossen worden sein. Sie gaben sich 24 Stunden Zeit, um ihre Koffer zu packen. Am Sonntag um 1 Uhr trafen sie sich vor dem Capitol in Austin, um gemeinsam zum Flughafen zu fahren, wo bereits eine Chartermaschine auf sie wartete. „Wir verlassen Texas, um für die Texaner zu kämpfen“, teilte der Bundestaatsabgeordnete Gene Wu in einer schriftlichen Erklärung mit.

Gene Wu bei einer Pressekonferenz mit Governeur J.B. Pritzker.
Gene Wu bei einer Pressekonferenz mit Governeur J.B. Pritzker. (Foto: Kamil Krzaczynski/REUTERS)

Am Zielort Chicago wurden die texanischen Exilanten von ihrem Parteifreund J.B. Pritzker empfangen, dem Gouverneur von Illinois.

Auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz am Sonntagabend sagte Pritzker: „Es geht hier nicht nur um die Manipulation des Systems in Texas“, die Rechte aller Amerikaner für die kommenden Jahre stünden auf dem Spiel.

Gerrymandering ist keine Erfindung von Trump. Versuche, sich über den Umbau der Wahlbezirke einen Vorteil für zukünftige Wahlen zu verschaffen, hat es in den Vereinigten Staaten immer wieder gegeben. Aber selten so schamlos und in solch einem Ausmaß wie nun in Texas. Wenn Trump diesmal damit durchkommt, dann schafft er es überall, fürchten viele Demokraten.

Der Auszug aus Austin ist aber auch eine logistische Herausforderung. Einige der knapp fünf Dutzend Abgeordneten sollen in einem Hotel in Chicago untergebracht worden sein, andere schwärmten aus nach New York City, Albany oder Boston. Die texanische Abgeordnete Vikki Goodwin sagte dem Portal Politico, sie wisse noch nicht, wie lange sie von zu Hause weg sein und wo sie in dieser Zeit schlafen werde. Couchsurfing gegen Trump, darf man das wohl nennen.

J.B. Pritzkerwerden Ambitionen auf die demokratische Präsidentschaftskandidatur für 2028 nachgesagt

Dennoch: Es geht hier keineswegs um Klamauk. Die Lage ist mindestens so ernst wie damals bei Lincolns Fenstersprung. Der texanische Gouverneur Gregg Abbott, ein Republikaner, droht bereits damit, den abtrünnigen Demokraten ihre Parlamentssitze zu entziehen, wenn sie nicht unverzüglich nach Texas zurückkehrten. All jenen, die sie mit Spenden unterstützen, um ihre Strafgebühren für verpasste Parlamentsdebatten (täglich 500 Dollar) zu bezahlen, drohte Abbott mit strafrechtlicher Verfolgung.

Trotzdem verschickte die Zentrale der Demokraten in Washington am Montag Spendenaufrufe, um die Abgeordneten aus Texas zu unterstützen. „Democrats are fighting back“, stand da. Vereinzelt war auch schon die Parole „Come and take it“ zu hören, was viele Amerikaner sofort mit der Texanischen Revolution von 1835 verbinden.

Den politischen Debattenzirkeln in den USA ist bei all dem nicht entgangen, dass sich insbesondere J.B. Pritzker als logistischer Helfer in der Not hervortut. Ihm werden Ambitionen auf die demokratische Präsidentschaftskandidatur für 2028 nachgesagt. Und diese Gerüchte hat er mit dem öffentlichkeitswirksamen Auftritt an der Seite der tollkühnen Texaner sicherlich nicht entkräftet.

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