Zweimal im Jahr zieht die russische Armee Wehrpflichtige ein, seit April läuft die Frühjahrswelle. Bis Mitte Juli sollen die Einberufungsämter jetzt landesweit 160 000 junge Männer einsammeln, Wladimir Putin segnet die Zahlen alle sechs Monate persönlich ab. So hoch wie in diesem Frühjahr waren sie seit 14 Jahren nicht mehr.
Dabei sollen Wehrdienstleistende eigentlich nicht im Krieg kämpfen, Putin hat es versprochen. Trotzdem sind sie wichtig für die Armee. Denn wer einmal in der Uniform steckt, aus dem wird leichter ein Vertragssoldat. Während der Kreml also diplomatisch Verhandlungsbereitschaft simuliert, sorgt seine Armee ungebremst und rücksichtslos für Nachschub. Nirgendwo gehen die Behörden dabei so brutal vor wie in Moskau.
Ein Student musste in Handschellen zur Musterung
Der Student mit der Großmutter wurde während der Herbstwelle im Dezember eingezogen, sein Fall ging durch die Medien. Die Polizei brachte ihn zur Militärkommission. In Handschellen musste er die medizinische Untersuchung über sich ergehen lassen, wurde für tauglich befunden. Noch am selben Abend fuhr man ihn zur Sammelstelle der Armee, einem inzwischen berüchtigten Bau aus rotem Stein. Dort werden die Rekruten in Busse geladen und in ihre Einheiten gebracht.
Besuch bei dem Anwalt, der damals versucht hat, dem 22-Jährigen und vielen anderen zu helfen. Er arbeitet in einem modernen Bürogebäude irgendwo in Moskau, viel Glas, kleine Innenhöfe. Der Anwalt selbst möchte sicherheitshalber unerkannt bleiben, schließt die Tür zum Besprechungsraum, keine Fenster, nur ein Strauß getrockneter Lavendel steht auf dem Tisch. Dann beschreibt er, wie Polizei und Nationalgarde in Moskau Jagd auf Wehrpflichtige machen.
Manchmal stehen sie vor den Wohnungstüren, manchmal nehmen sie junge Männer bei Verkehrskontrollen fest, es gibt Razzien in Clubs und Studentenheimen. Die meisten werden in der Metro festgenommen, wo in Moskau überall Kameras mit Gesichtserkennung hängen. Wer einmal im Einberufungsamt war, dessen Foto ist in den Akten. Männer im wehrpflichtigen Alter, also zwischen 18 und 30, müssen sich regelmäßig dort melden, Umzüge anzeigen oder einen Aufschub beantragen, wenn sie studieren.
Wer dann eingezogen wird, wirkt oft willkürlich. Im Dezember ging ein Video durch die sozialen Medien, das zeigt, wie Polizisten einen jungen Mann mit Gewalt aus einem Auto zerren. Es ist ein großer, schlaksiger Student mit längeren blonden Haaren. Auch ihn hat der Anwalt vertreten, der jetzt im fensterlosen Raum erzählt, wie sehr sich das Moskauer System im vergangenen Jahr verändert hat.
Früher gab es Dutzende Stellen in der Stadt, in denen verschiedene Militärkommissionen geprüft haben, ob jemand tauglich ist. Jetzt trifft eine zentrale Kommission alle Entscheidungen, müssen alle im selben stark bewachten Gebäude vorsprechen. Verweigerer landen dort oft in einem separaten Nebengebäude, mit Gittern an den Fenstern. Handys sind nicht erlaubt, nur Tastentelefone ohne Internetzugang, fast wie im Gefängnis.
Dabei gibt es auch in Russland legale Wege, den Wehrdienst zu vermeiden, eigentlich. Wer krank ist, müsste ausgemustert werden. Wer aus Überzeugung keine Waffe tragen möchte, kann theoretisch Zivildienst beantragen. Die Praxis sieht oft anders aus: Selbst wer vor Gericht Einspruch gegen seine Einberufung erhebt, wird schnell zum Sammelpunkt gebracht. Und landet womöglich in einer Militäreinheit, bevor das Gericht entscheiden konnte.
Für den jungen Studenten, dem sie den Strom abgedreht hatten, wurde die Sammelstelle zum Albtraum. Die Mitarbeiter dort hätten ihn geschlagen, auch mit Elektroschockern, ihm die Arme verdreht, das hat sein Anwalt schon damals in seinem Telegram-Kanal beschrieben. Am Ende wurde er zu einer motorisierten Schützendivision nahe Moskau geschickt, nach einigen Monaten aber entlassen. Der Anwalt möchte die Gründe dafür nicht nennen. Gewalt in den Sammelstellen sei leider üblich, sagt er jetzt im Konferenzraum, er kenne aber auch Betroffene, die erfolgreich Widerstand geleistet hätten. Theoretisch könne man sich weigern, in den Bus zu steigen, sich auf den Boden legen und sagen: „Ich gehe nirgendwo hin.“ Man müsse nur lang genug durchhalten, womöglich tagelang.
Die meisten wehren sich gar nicht erst
Anruf bei Menschenrechtler Timofej Waskin, der für die Organisation „Schule für Wehrpflichtige“ arbeitet und Wehrpflichtigen jetzt aus dem Exil heraus hilft. Waskin erzählt von einem jungen Mann, der sehr aktiv gewesen sei und dazu bereit, gegen den Wehrdienst anzukämpfen. Als er dann aber festgenommen und zur Sammelstelle gebracht wurde, hätte er schnell aufgegeben: „Es gibt überall Gitter, überall Uniformierte. Die können dich verprügeln, weil du Widerstand leistest, Elektroschocker einsetzen.“
Die meisten wehren sich gar nicht erst. Von rund 8000 Wehrpflichtigen der letzten Herbstwelle in Moskau wurden etwa 500 mit Gewalt festgenommen, schätzt der Anwalt. Viele fügen sich ihrem Schicksal, weil ihnen Widerstand gegen den Staat ohnehin undenkbar erscheint. Sie haben Angst, nie wieder eingestellt zu werden, zu Ausgestoßenen der Gesellschaft zu werden, weil die staatliche Propaganda das allen einredet. „Die Menschen haben sogar Angst, Beschwerde einzureichen, also ein ganz offizielles Verfahren zu nutzen“, sagt der Anwalt. Warum ausgerechnet Moskau? Weil die soziale Lage dort besser sei als in den Regionen, die Menschen mehr Möglichkeiten haben, der Armee zu entgehen. Also setzen die Behörden ihre Quote mit Gewalt durch.
Nikita lebt nicht in Moskau, auch er bittet im Videoanruf darum, anonym zu bleiben. Schon mit 17 Jahren hat er den Armeedienst verweigert und Zivildienst beantragt, das war ein Jahr bevor Putin seine Panzer über die ukrainische Grenze schickte. Damals ging Nikita zusammen mit seiner Mutter ins Einberufungsbüro, sein Antrag wurde abgelehnt. „Es gefiel ihnen nicht, dass ich keine Waffen tragen wollte“, sagt er lapidar.
In dem kleinen Ort, aus dem er stammt, kennt fast jeder seine Haltung. Schließlich sollten sie dort schon in der Schule den Umgang mit Waffen lernen, ein Gewehr auseinanderbauen. Nikita war der Einzige, der im Unterricht keine Uniform tragen, das Gewehr nicht anfassen wollte. Die Lehrer hätten ihn einen Feigling genannt, einen „Verräter am Vaterland“, sagt er.
Später, als er schon studiert, versuchten die Behörden, Druck auf ihn auszuüben. Sie haben gedroht, seiner Familie etwas anzuhängen, die Mitgliedschaft in einer verbotenen Gruppe. Nikita hat seinen Antrag auf Zivildienst trotzdem wiederholt, er wartet immer noch auf Antwort. Er habe keine Angst, sagt er, „es ist eher ein Gefühl der Verwirrung. Ich habe Angst, einen Fehler zu machen“. Er möchte den Behörden keinen Vorwand liefern, ihn zu bestrafen.
In Moskau, sagt der Anwalt im abgeschirmten Konferenzraum, würden Anträge auf Zivildienst zu 99 Prozent abgelehnt. Zivildienst dauert in Russland zwei Jahre, Wehrdienst eins. Wer Glück hat, verbringt den weit weg von den Kämpfen. Wer Pech hat, der landet auch als Wehrpflichtiger in einer Grenzregion, in Brjansk, Belgorod oder Kursk, wo ukrainische Truppen 2024 überraschend schnell viel Boden erobern konnten. Mindestens 25 Wehrpflichtige seien in Kursk ums Leben gekommen, schreibt das unabhängige Onlinemedium Wjorstka, das sich Todesanzeigen im Internet angeschaut hat.
Die Gerichte ignorieren einfach die Gewaltmaßnahmen
Dazu kommt der Druck, einen Vertrag zu unterschreiben. Überall in Russland werden Soldaten angeworben, Wehrpflichtige sind dem besonders ausgesetzt. Seit Jahren warnen Menschenrechtler davor, dass sie bei der Armee zur Unterschrift gedrängt werden, manchmal mit Gewalt. Die Kommandeure dort hätten Vorgaben, sagt Menschenrechtler Waskin, wie viele Vertragssoldaten sie in ihren Einheiten finden müssen. „Und die Wehrpflichtigen bilden seit jeher die Grundlage für die Rekrutierung einer Vertragsarmee.“
Die Einberufungsbüros wiederum sorgen für Nachschub bei den Wehrpflichtigen. Dass die Moskauer Behörden dabei gegen geltendes Recht verstoßen, hat Methode, das fängt bei der Polizei an. Wenn jemand die Vorladung der Militärkommission ignoriert, ist das eine Ordnungswidrigkeit. Die Polizei kann eine Geldstrafe verhängen, aber den Betroffenen nicht gleich zur Rekrutierungsstelle bringen. Die Gesichtserkennung in der Metro dürfte eigentlich nur gegen Kriminelle eingesetzt werden. Die medizinische Kommission verfälscht Diagnosen. Und die Gerichte ignorieren es, wenn jemand zur Armee geschickt wird, bevor sein Einspruch geprüft wurde.
Alle beteiligen sich am Unrechtssystem. Der Menschenrechtler Waskin nennt das „eine gezielte Politik der Zwangsrekrutierung“.