Rücktritte von Kühnert und Lang: Eine Generation verliert ihre politischen Stimmen

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Im Moment ihres Rücktritts klingen Ricarda Lang und Kevin Kühnert wie ausrangierte Alt-Politiker: „Es braucht neue Gesichter“, sagte die Grünen-Vorsitzende. „Politik lebt vom Wechsel“, erklärte der SPD-Generalsekretär. Doch tatsächlich verkündeten hier eine 30-Jährige und ein 35-Jähriger ihren Rückzug aus der ersten Reihe der Politik.

Nur zwölf Tage liegen zwischen den beiden freiwilligen Abgängen, die unterschiedliche Gründe haben, aber ähnlich große Turbulenzen in der eigenen Partei auslösen. Denn mit Lang und Kühnert verlieren Grüne und SPD zwei ihrer fähigsten Talente.

Schon ihr Aufstieg fiel zeitlich zusammen. Lang wurde im Oktober 2017 Vorsitzende der Grünen Jugend, Kühnert übernahm einen Monat später bei den Jusos. Seitdem haben sie das Bild in der deutschen Politik mitgeprägt. Beide einen Fähigkeiten, die in der Politik nur selten im größeren Maß zusammenfallen: rhetorische Brillanz, inhaltliche Tiefe in der Breite, strategisches Geschick, der Wille zur Macht, eine Prise Humor.

43,7

Jahre betrug das Durchschnittsalter in Deutschland 2023 – Tendenz steigend.

Lang und Kühnert haben in den vergangenen Jahren Menschen Gesicht und Stimme gegeben, die in Deutschlands (Spitzen-)Politik unterrepräsentiert sind. Der durchschnittliche Abgeordnete ist 47,3 Jahre, die jüngste Ministerin Annalena Baerbock. Sie wird im Dezember 44. Im kommenden Bundestagswahlkampf wird aller Voraussicht nach gegen den dann 67-jährigen Scholz der fast 70-jährige Friedrich Merz antreten. Ob sie die Lebensrealität der jungen Menschen verstehen?

Die Jugend ist so verunsichert, wie lange nicht. Inflation, Kriege und teurer Wohnraum bereiten Studien zufolge vor allem Menschen unter 30 Jahren große Sorge. Eine Entwicklung, die sich seit Jahren verschärft. „Es wirkt so, als hätte die Corona-Pandemie eine Irritation im Vertrauen auf die Zukunftsbewältigung hinterlassen, die sich in einer anhaltend tiefen Verunsicherung niederschlägt“, heißt es in der Studie „Jugend in Deutschland“ aus dem April.

Was politisch daraus folgt, hat sich seitdem eindrucksvoll gezeigt. Bei den Europawahlen wählten ein Drittel der 16- bis 24-Jährigen keine der etablierten Parteien, sondern gaben ihre Stimme Kleinstparteien wie Volt oder der Tierschutzpartei. Weitere 16 Prozent stimmten für die AfD. Bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen wurde die rechtsextreme Partei bei den unter 25-Jährigen mit Abstand stärkste Kraft.

Doch nicht nur am rechten Rand zeigt sich die Enttäuschung der Jugend mit der Politik. Bundesweit treten in diesen Tagen führende Mitglieder der Grünen Jugend resigniert zurück oder gleich ganz aus der Partei aus. Der Frust ist groß, die Sorgen auch.

Denn die Krisen unserer Zeit werden vor allem die jungen Menschen zu spüren bekommen. Während sich die Generation der Baby-Boomer in den Ruhestand verabschiedet, bleiben ihre ungelösten Probleme zurück: Die Wirtschaft schrumpft, die Pflegekassen stehen kurz vor der Pleite, die Krankenkassenbeiträge werden erheblich steigen und die geplante Festschreibung des Rentenniveaus auf 48 Prozent wird bei immer mehr Rentnern von immer weniger Jungen geschultert werden müssen. Und auch die Folgen der Klimakrise werden sich von Jahr zu Jahr verschärfen.

Natürlich wäre es ein Fehlglaube, dass nur junge Politiker Politik für junge Menschen machen könnten. Und bei weitem nicht jeder junge Mensch fühlte sich automatisch von Ricarda Lang oder Kevin Kühnert gut vertreten. Beide repräsentieren ein eher urbanes, linkes Milieu. Umso bedenklicher, dass man auch bei anderen Parteien kaum bekannte Nachwuchsfiguren findet. Bei der Union zählen Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (44) oder Generalsekretär Carsten Linnemann (47) zu den Jüngsten der Führungsriege. Die AfD hat die mit Abstand älteste Bundestagsfraktion.

Mit Kühnert und Lang verliert eine Generation ihre politischen Stimmen. Ihr Rückzug zeigt mehr denn je, dass sich die Parteien um die Jugend bemühen muss – auch um den eigenen Nachwuchs. Er muss von den Parteien begeistert und geworben werden. Und am besten nicht gleich wieder in frühen Jahren verschlissen. Damit die neuen Gesichter nicht die alten Bekannten sind.

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